73) Vier Monate später

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Die Ereignisse rund um die verschwundene magische Maschine liegen jetzt vier Monate zurück. In dieser Zeit ist viel passiert.

Adeline hat die Maschine auftreiben und sicherstellen können. Offiziell heißt es, sie wäre an einem sicheren Ort; inoffiziell haben wir sie nur wenige Tage nach ihrer Sicherstellung in einer kleinen, feierlichen Zeremonie in den Ruinen des Romarin-Anwesens eingeschmolzen.

Camille, Vernon und die überlebenden Eisenkreuzer sind im Gefängnis. Ihnen wird Diebstahl, Mord, Verschwörung und Hochverrat vorgeworfen. Ich denke nicht, dass wir sie in absehbarer Zeit wieder zu Gesicht bekommen werden, auch wenn sich der Gerichtsprozess schon eine Weile hinzieht.

Die Fraktion des Präsidenten hat bei der Troisan herbe Verluste einstecken müssen. Dagegen haben seine politischen Gegner mit dem Vorschlag eines Narcisse-Paragraphen, der die rasche Einleitung von Friedensverhandlungen mit Ellyrien vorsieht, eine überwältigende Mehrheit erreicht.

Wir können den Präsidenten wegen der Dinge, die er getan hat, nicht belangen, aber wir können zuhören, wie die Stimmen, die seinen Rücktritt fordern, immer lauter werden. Nicht zuletzt, weil seine Gegner sehr gut darin sind, es so aussehen zu lassen, als wäre er irgendwie in das Luftschiff-Attentat (so nennen sie es im Volksmund) auf Prinz Shirin beteiligt gewesen. Ich denke nicht daran, sie zu korrigieren.

Apropos Prinz Shirin ... der Prinz ist Étienne, Seymour und mir sehr dankbar. Er hat uns ein paar goldene Orden umgehängt und uns eine obszöne Geldsumme überwiesen, die wir dazu benutzt haben, das Notwendige zu tun: Die leer stehende Erziehungsanstalt der Cerisiers zu kaufen.

Obwohl Étienne sich im Luftschiff vor aller Augen verwandelt hat, sind Elfenflüche in der Gesellschaft noch immer kein Thema. Es ist fast ein bisschen so, als wüssten alle Bescheid, hätten aber kollektiv beschlossen, nicht darüber zu sprechen.

Étienne und ich wollen da nicht länger mitmachen. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, die Schule in ein Heim für Verfluchte umzubauen.

Nach langem Hin und her und vielen Diskussionen mit Isabel, die darauf beharrt, Faucon eine zweite Chance geben zu wollen, haben wir ihn tatsächlich eingestellt. Wenn er nicht durch das Land zieht, um Verfluchte zu finden und sie in unsere Zuflucht einzuladen, lehrt er Isabel, wie sie ihre Magie besser beherrschen kann. Und Isabel bringt ihm bei, den Stimmen zuzuhören – ohne sich dabei vom Rauschen des Fluchs ablenken zu lassen.

Inzwischen glaube ich fast, dass er bereut, was er getan hat. Er scheint eingesehen zu haben, dass die Magie uns nicht alle umbringen will. Dass der Fluch keine eitrige Infektion ist, die aus dem Fleisch geschnitten werden muss, sondern eine Krankheit, die geheilt werden kann. Dennoch werde ich ihm wohl nie ernsthaft vertrauen können.

Theo hat sich von seinen Verletzungen erholt und arbeitet härter denn je daran, die Funktionsweise unserer Flüche zu erforschen. Zusammen mit Seymour und Isabel plant er, eine Reise nach Ellyrien zu unternehmen, um die Elfen um Rat zu fragen.

Mae ist aus ihrem Ei geschlüpft und innerhalb weniger Tage wieder zu der hübschen jungen Frau herangewachsen, die ich auf Menthe kennengelernt habe. Seit damals hat sie nicht mehr gebrannt. Sie wagt sich auch häufiger Mal nach draußen und unternimmt gerne lange Spaziergänge in den Dünen. Am liebsten in Begleitung von Isabel oder Faucon.

Adeline hat sich dazu überreden lassen, dem Corps in beratender Funktion zu dienen. Ich weiß nicht genau, was das bedeuten soll, aber sie verbringt viel Zeit in der Gendarmerie und hat auch schon ein paar neue Schimpfwörter gelernt.

Seymour profitiert am meisten von Faucons Arbeit und Isabels neu gewonnener Kontrolle über ihre magischen Fähigkeiten. Erst vor ein paar Tagen hat er sich beim Frühstück von selbst wieder an Dinge vom Vortag erinnert. Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis ihm Ereignisse aus seiner Kindheit einfallen.

Étienne verbringt viel Zeit damit, die Schule zu einem gemütlichen Heim umzubauen. Jeder spürt, wie sehr ihm die Verfluchten am Herzen liegen. Davon abgesehen, verbringt er viel Zeit mit seiner kleinen Familie. Gemeinsam stürzen wir uns ins Tournesoler Nachtleben und sind gern gesehene Gäste auf den meisten Veranstaltungen.

Ich genieße diese Zeit. Auch oder gerade weil ich nicht weiß, wie lange sie anhalten wird. Mein Verlangen andere Menschen zu drücken, ist schwächer geworden. Manchmal reicht es schon, wenn ich mir jede zweite Nacht ein Opfer suche. Auch meine kurzen Momente der Traurigkeit sind weniger geworden. Ich werde noch immer schnell melancholisch, besonders wenn ich an meine Familie oder Narcisse denke, aber ich kann diese Gefühle inzwischen besser ertragen.

Neulich haben Étienne, Isabel, Seymour, Adeline, Mae, Theo un dich am Kaminfeuer darüber diskutiert, ob die Mythen, die unseren Flüchen zugrunde liegen, durch Elfenflüche entstanden sind oder ob unsere Flüche sich aus irgendeinem Grund an diesen Geschichten orientieren. Niemand kennt die Antwort auf diese Frage, aber ich glaube, ich habe eine Theorie. Wenn die Magie - wie Faucon gesagt hat – eine Geschichte ist, die erzählt werden will, dann sind die Geschichten, die wir uns erzählen, auch eine Form von Magie. Die einzige Art der Magie, die normale Menschen kennen, und das ist der Grund, aus dem ich diese Geschichte erzähle – und aus dem sie immer weiter erzählt werden sollte. Damit die Magie niemals ausstirbt.


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