Nur schwer kann ich mich aus der Dunkelheit befreien. Gefangen zwischen Vergangenheit und Gegenwart lasse ich die beschauliche Landschaft an mir vorüberziehen.
Hin und wieder streckt Étienne die Hand aus, um mich auf einen Wald, einen See oder eine komische Steinformation aufmerksam zu machen. Dazu erzählt er mir lokale Legenden oder kurze Geschichten aus seiner Kindheit.
Seymour lässt Étienne reden und beschränkt seinen Beitrag zur Unterhaltung auf ein paar schnippische oder abfällige Kommentare.
Ich stelle fest, dass ich Étienne gerne zuhöre. Er hat eine lebhafte und ungezwungene Art, die einfach liebenswert ist. Noch dazu kommt es mir so vor, als hätte er nur darauf gewartet, jemanden zu finden, der ihm zuhört.
Doch nach einer Weile muss auch ihm meine niedergedrückte Stimmung auffallen. Statt etwas zu sagen, bedenkt er mich bloß mit einem mitfühlenden Blick und zieht mich fester an sich, bis ich mit der Wange an seiner Schulter zum Liegen komme. Ich schlinge einen Arm um seinen Bauch und schließe die Augen. Das Ruckeln der Voiturette auf den unebenen Straßen, das Brummen des Motors und die Wärme der frühen Mittagssonne wiegen mich in den Schlaf.
Ich döse vor mich hin, bis wir das Jouyan-Viertel erreichen.
»Betty ...?« Étienne rüttelt mich sanft an der Schulter.
»Ich bin wach«, nuschele ich, stütze mich an seiner Brust ab und richte mich auf.
Étiennes Augen funkeln spöttisch, doch ich ignoriere es und lasse meinen Blick über das imposante Bauwerk am Eingang zum Jouyan-Viertel schweifen. Zwei mehrstöckige Türme mit überhängenden Pagodendächern und geschnitzten Löwenwächtern – und dazwischen ein mächtiges Holztor mit einem Vorhang aus meterhohen Bambuspfeifen, die im auffrischenden Wind ein klackerndes Konzert veranstalten. Dahinter kann ich bereits die bunten Gassen und die vielen altertümlichen Joumin-Häuser mit ihren Lamellenfassaden, Spruchbändern und farbenfrohen Holzschindeldächern erahnen. Über die Straßen sind Girlanden und Tücher gespannt und von den Dachkanten baumeln Reispapierlaternen.
Es herrscht ein Gewimmel wie in einem Ameisenbau. Fahrende Händler mit Wagen und Karren bieten entlang der Straßen ihre Waren feil – in erster Linie Schmuck, Stoffe und Teppiche. Dazwischen die zahlende Kundschaft, Passanten und immer wieder kleine Garküchen, an denen gebratene Speisen oder exotische Süßigkeiten angebotenen werden. Der appetitliche Geruch von scharf gewürztem Brathähnchen und fettigen Teigtaschen erfüllt die aufgeheizte Luft.
»Willkommen in der Klunkerstadt«, sagt Étienne, schwingt sich von der Sitzbank und reicht mir die Hand.
»Klunkerstadt?«, wiederhole ich und reibe mir die Augen.
»Die umgangssprachliche Bezeichnung für diesen Stadtteil.«
»Eine von vielen, aber vermutlich die Einzige, die man in Anwesenheit einer Dame in den Mund nehmen darf«, ergänzt Seymour.
Étienne hilft mir aus der Voiturette, die in einer Haltebucht am Straßenrand zum Stehen gekommen ist. »Hat vermutlich mit dem hiesigen Joumin-Geldhaus zu tun, das ein klein wenig zu protzig geraten ist.«
»Damit haben die Joumin sich keinen Gefallen getan.«
Seymour winkt einen schmächtigen Jungen in Dreiviertelhosen und mit einer flachen Arbeitermütze auf dem Kopf zu sich und steckt ihm einen Geldschein zu – vermutlich als Bezahlung dafür, dass der Junge die Voiturette im Auge behält.
»Ach, du kennst doch Bo«, seufzt Étienne. »Über sowas macht der sich keine Gedanken.«
Ich komme mir dumm vor. »Bo? Wer ist Bo?«
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...