Als die Tür zu meinem Hotelzimmer aufgebrochen wird, bin ich schon wieder in Katzengestalt zum Fenster hinaus. Leider reicht meine Kraft nicht aus, um die Verwandlung aufrechtzuerhalten. Daher lande ich ziemlich ungeschickt auf dem Gehweg.
Mit aufgeschürften Handflächen und Knien renne ich die Straße hinunter und flüchte um die nächste Ecke. Genau hier haben Étienne und ich die Verfolgung der Straßenbahn aufgenommen. Ich versuche, mich an unser Wettrennen und die daran anschließende Fahrt durch die Innenstadt von Tournesol zu erinnern. Leider war ich zu sehr auf meinen Begleiter und zu wenig auf unsere Umgebung konzentriert. Außerdem sieht im Dunkeln alles anders aus als bei Tag. Auch die Straßenschilder sind mir keine große Hilfe. Aber ich habe keine Wahl. Zögere ich, wird Faucon mich finden. Er hat die ganze Menther Kriminalpolizei hinter sich. Wenn ich ihm entkommen will, muss ich mich beeilen.
Also marschiere ich los und orientiere mich an auffälligen Gebäuden und anderen Wegmarken. Zum Glück gibt es gewisse Begebenheiten, die fast alle größeren Städte Ragoniens gemeinsam haben. Zum Beispiel, dass die Straßen in der Nähe des Bahnhofs enger und schmuddeliger werden. Plakate an Hauswänden und Litfaßsäulen werben für schmierige Kneipen und zwielichtige Tanzlokale.
Im dämmrigen Schein der Gaslaternen sind nur noch wenige Menschen unterwegs. Hauptsächlich Betrunkene und Joumin-Händler, die ihre Waren auf klappernden Handkarren durch die Straßen schieben. Dazwischen immer wieder Frauen in auffälligen, ausgesprochen offenherzigen Kleidern. Sie halten sich in den Schatten, aber ihren wissenden Augen und ihrer instinktiven Menschenkenntnis entgeht nichts. Sie sehen mir an, dass ich auf der Flucht vor dem Gesetz bin, und helfen mir gerne, als ich sie nach dem Weg zum Bahnhof frage.
Obwohl ich wie ein Mann gekleidet bin, werde ich unterwegs zwei Mal von Freiern angesprochen, die ihren Irrtum jedoch schnell bemerken und eilig das Weite suchen. Ein paar betrunkene Hafenarbeiter pfeifen mir nach und ein einheimischer Schmuckhändler versucht hartnäckig, mich für seine Perlenarmbänder zu begeistern.
Schließlich taucht das Bahnhofsgebäude vor mir auf. Ein rustikaler Backsteinbau, dem man ansieht, dass er rund um die letzte Jahrhundertwende errichtet worden ist.
Bevor ich den Bahnhofsvorplatz betrete, sehe ich mich gründlich um. Wie erwartet, kann ich im Schatten einer Bruchsteinmauer, die vermutlich noch zur alten Befestigungsanlage gehört, zwei Gendarmen herumstehen sehen. Es hat zu nieseln begonnen und die beiden wirken nicht begeistert darüber, bei diesem Wetter Dienst schieben zu müssen.
Ich warte, bis sie ihre Aufmerksamkeit dem Elfmond zuwenden, der blutig rot durch die Gewitterwolken schimmert, und husche zum Eingangsportal des Bahnhofs hinüber. In der Gleishalle sind nur eine Handvoll Reisegäste versammelt. Ein Stationsbeamter ist soeben dabei, die Buchstaben auf der Anzeigetafel auszutauschen. Offenbar fährt zu dieser späten Stunde nur noch ein Zug. Nach Roquette. Ich habe keine Ahnung, wo Roquette liegt, aber da Menthe nicht besonders groß ist, stehen meine Chancen gut, dass wir in die richtige Richtung fahren.
Nachdem ich mir am Schalter ein Zugticket gekauft habe, beobachte ich die Ein-und Ausgänge der Gleishalle. Ich rechne jederzeit damit, dass Faucon oder einer seiner Beamten zur Tür hereinkommen wird. Sobald der Capitaine erfährt, dass ich aus dem Hotel geflohen bin, wird er mich suchen. Und er wäre dumm, nicht sofort den Hafen und den Bahnhof zu überprüfen. Vielleicht hätte ich zu Fuß oder mit einer Droschke fliehen sollen. Ich überlege, ob es zu spät zum Umkehren ist. Mein Gefühl sagt mir, dass ich rennen soll. So schnell und so weit wie möglich. Doch alleine bin ich vollkommen schutzlos. Ich brauche jemanden, der mich versteckt. Und der einzige Mensch auf der Insel, dem ich vertraue, ist Étienne.
Meine Gedanken wandern zurück zu dem Vorfall in Narcisse' Schlafzimmer. Ich kann noch immer nicht glauben, dass mein Auftraggeber tot ist. Bei der Erinnerung an das letzte Geräusch aus seiner Kehle, an das letzte Zucken seiner Glieder, wandert eine Welle der Übelkeit durch meinen Körper. Mein Mund wird staubtrocken und ich verschlucke mich fast an meiner Zunge.
Nervös reibe ich mein Handgelenk und spähe zu der großen Uhr über dem Eingangsportal hinüber. Es ist bereits kurz vor Mitternacht. Der Regen wird stärker. Stakkatoartig prasseln die Tropfen auf das Ziegeldach. Das Geräusch dröhnt dumpf durch die fast leere Halle, deren Backsteinmauern von hölzernen Bankreihen und bunten Werbeplakaten gesäumt werden.
Mein Blick bleibt an einem gerahmten Banner des Lou-Tan-Theaters hängen und ich spüre, wie mir bei der Erinnerung an mein erstes Treffen mit Narcisse die Tränen in die Augen steigen. Ich wische sie weg und straffe die Schultern. Rumheulen wird mir auch nicht weiterhelfen. Damit ziehe ich nur ungewollte Aufmerksamkeit auf mich.
In der Ferne kündigt ein schrilles Pfeifen das Nahen meines Zuges an. Ein benebelndes Gefühl der Erleichterung rauscht durch meine Adern.
Die Entspannung ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn genau in dem Moment, in dem der Zug von Westen her in den Bahnhof einfährt, tauchen zwei Männer vom Corps in der Gleishalle auf. Sie tragen die gleichen dunklen Uniformen wie die beiden Kerle, die mich vor Narcisse' Anwesen überfallen haben.
Kaum habe ich das gedacht, wird mir mein Irrtum bewusst. Die beiden tragen nicht nur die gleichen Uniformen, es sind die gleichen Männer.
Sofort schießt mir die Panik vom Herzen aus in alle Glieder. Ein Ruck geht durch meinen Körper und ich fliehe, ohne darüber nachzudenken, ins Freie hinaus. Die Dampflok rauscht neben mir her und hüllt mich in eine weiße Dampfwolke, die wegen des Vordachs nicht vollständig nach oben entweichen kann. Der Gestank von Rauch, Eisen und heißem Öl mischt sich mit dem angenehm frischen Geruch des Regens. Für einen Moment übertönt das Schnaufen, Stampfen, Pfeifen und Quietschen der Trieblok alle anderen Geräusche. Erst, als sie zum Stillstand kommt, kann ich die beiden Männer meinen Namen rufen hören. Statt stehenzubleiben, beschleunige ich meine Schritte, tauche tiefer in den Dampf ein und nutze ihn als Deckung, um ins Gleisbett zu steigen und zwischen den Waggons hindurch zur anderen Seite des Zugs zu klettern. Dort kauere ich mich hinter den riesigen, über Treibstangen verbundenen Rädern zusammen.
»Hey!«, höre ich meine Verfolger rufen. »Wo ist die Frau?«
»Welche Frau?«, ruft jemand – vermutlich ein Schaffner oder Heizer – zurück.
»Die blonde Frau mit der Hose«, erwidert der Schnauzbärtige. Ich erkenne ihn an seiner dumpfen, etwas nasal klingenden Stimme.
»Hab keine Frau gesehen«, schallt es zurück.
Ich halte den Atem an und schleiche mich an der Rückseite der Waggons entlang.
»Sie ist bestimmt eingestiegen«, höre ich den Hageren sagen.
»Sehen wir nach!«, erwidert sein Kumpan.
»Was machen Sie denn da?«, ruft der Schaffner oder Heizer. »Sie können doch nicht einfach einsteigen! Haben Sie überhaupt eine Fahrkarte?«
»Wir sind vom Corps! Wir brauchen keine Fahrkarte!«
Ich husche geduckt zum Ende des Zuges und beobachte, wie die anderen Fahrgäste einsteigen. Der Regen tropft mir vom Vordach in den Kragen, aber ich ignoriere es und verharre vollkommen reglos, bis die meisten Reisenden eingestiegen sind und die Lok ein langgezogenes Abfahrtssignal von sich gibt. Dann laufe ich wieder zur Rückseite des Zuges und hämmere mit der Faust gegen die Fensterscheiben. Durch den Lärm werden die beiden Polizisten im Innern auf mich aufmerksam. Mit weit aufgerissenen Augen und wild gestikulierend stürzen sie zurück zum Ausgang, springen aus dem Zug und umrunden die Waggons.
In der Zwischenzeit bin ich schon wieder zwischen den Wagen hindurchgeklettert und eingestiegen. Nur Sekunden darauf setzt sich der Zug auch schon in Bewegung.
Auf zittrigen Beinen gehe ich zu einem freien Platz. Der Schaffner will meine Fahrkarte kontrollieren, doch meine Finger zittern so stark, dass sie mir aus der Hand rutscht und zu Boden fällt. Ich brauche zwei Anläufe, um sie aufzuheben. Der Schaffner tut so, als hätte er nichts bemerkt und wendet sich dem nächsten Fahrgast zu.
Ich ignoriere die aufdringlichen Blicke der anderen Reisenden, lehne mich zurück und schließe die Augen. Die Maschinen stampfen und der Regen trommelt gegen die Scheiben. Ich spüre die Beschleunigung und weiß, dass ich erst einmal in Sicherheit bin. Bis zur nächsten Haltestelle. Wo auch immer das sein mag. Hoffentlich an einem Ort, an dem Faucon mich erst einmal nicht findet. Zwei Stunden mit dem Pferd, hat Étienne gesagt. Eine Stunde mit der Voiturette. Und mit dem Zug? Vermutlich ähnlich. Jedenfalls, wenn wir tatsächlich in die richtige Richtung fahren. Doch ganz egal, was passieren wird. Jetzt kann ich nichts mehr tun, um es zu ändern.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...