11) Blaue Disteln

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Ich finde zwar nicht sofort Schlaf, aber dafür verschlafe ich am nächsten Morgen, was normalerweise gar nicht meine Art ist.

Als ich aufwache, scheint bereits die Sonne. Ihre honiggoldenen Strahlen fallen durch die halb geschlossenen Jalousien herein und malen parallele Streifen auf den handgeknüpften Teppich. Eilig klettere ich aus dem Bett und mache mich zurecht. Ich schlüpfe in eine weiße Spitzenbluse mit Futtertaille, schlichten Perlmuttknöpfen, hohem Kragen und Seidenbändchen. Dazu trage ich einen hellblauen Leinenrock mit Taillengürtel und leichte Schnürstiefeletten. Die Haare stecke ich hoch, setze einen steifen Strohhut auf und hänge mir meine Handtasche aus farbigem Gobelin über den Arm. Dann bin ich auch schon ausgehfertig.

Im Foyer herrscht Trubel. Irgendein Herr beschwert sich wegen des Zimmerservices und wird dabei ziemlich laut und unfreundlich. Der Concierge bemüht sich um Schadensbegrenzung, aber es ist zu spät. Das wilde Toben seines Gastes hat bereits viele Schaulustige aus dem angrenzenden Speisesaal angezogen. Tuschelnd stehen sie an der Durchgangstür herum und amüsieren sich über die Darbietung.

»Besser als das Theater«, höre ich einen von ihnen sagen.

»Und vor allem kostenlos«, ergänzt ein anderer, den ich als den Dandy von letzter Nacht wiedererkenne. Er hat dunkle Ringe unter den Augen, scheint unser nächtliches Rendezvous aber davon abgesehen gut weggesteckt zu haben.

Das zu sehen, erleichtert mich. Manchmal fürchte ich, meinen Opfern bleibenden Schaden zuzufügen. Und obwohl sich das nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen lässt, deuten meine bisherigen Erfahrungen darauf hin, dass ein einmaliges Drücken keine schwerwiegenden oder gar dauerhaften Konsequenzen nach sich zieht. Auch nicht bei Menschen, die währenddessen aufwachen und mich in meiner Drudengestalt sehen. Es ist unangenehm und äußerst unerfreulich, keine Frage, aber es scheint nicht schädlich zu sein. Andernfalls wüsste ich auch nicht, wie ich damit leben könnte.

Ausgeruht und neuen Mutes verlasse ich das Hotel, kaufe mir in einer kleinen Bäckerei ein süßes Gebäck, das ich auf der Promenade verzehre, während ich den großen Dampfschiffen bei der Einfahrt in den Hafen zusehe. Möwen kreisen am wolkenlosen Himmel. Die Sonne scheint und es ist angenehm warm. Ganze Wagenladungen an Besuchern vom Festland strömen eine kleine Anhöhe hinauf, um die alte Befestigungsanlage zu erkunden. In der Schule haben wir gelernt, dass genau hier viele Schlachten gegen Piraten geschlagen worden sind.

Menthe ist schon früh von Ostragon besetzt worden und bildete während des myrischen Zeitalters einen wichtigen Handelsstützpunkt, vor allem für Gewürze, Schießpulver, Kakao und Gold. Noch heute kann man den Reichtum erahnen, der mit den Kolonisten auf die Insel gekommen ist. Genau wie die damit einhergehende Ungleichverteilung. Es heißt, Menthe wäre die Insel der Wünsche, die Zukunft des Landes (aus diesem Grund wurde auch das Parlament hierher verlegt). Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen, aber ich sehe jede Menge einheimische Fischer mit löchrigen Ruderbooten und Kinder, die sich an der Promenade ein paar Pfennige erbetteln. Ihre Wünsche werden auf Menthe sicher nicht in Erfüllung gehen.

Ich drücke den Straßenkindern mein Kleingeld in die schmutzigen Hände und suche mir eine Mietdroschke, die gut an der leuchtend weißen Lackierung zu erkennen sind. Eigentlich wollte ich die Straßenbahn ausprobieren, aber da ich verschlafen habe, hatte ich keine Zeit, mich mit den Fahrplänen zu befassen. Und ich will auf keinen Fall zu spät zu meinem Treffen mit Roland Narcisse kommen. Wir haben zwar keine Uhrzeit ausgemacht, aber ich weiß, dass die erste Sitzung mit einem neuen Auftraggeber durchaus mal länger dauern kann.

Doch als ich am Narcisse-Anwesen ankomme, wird mir klar, dass dieses Treffen nicht so wird wie meine bisherigen Auftaktsitzungen.

Auf der Straße vor dem Eingang des Anwesens, der hinter einem Säulenvorbau verborgen liegt, haben sich einige Dutzend Demonstranten eingefunden. Sie skandieren irgendwas von wegen Elfen sind alle Mörder – kein Frieden mit Ellyrien, schwenken Schilder und werfen mit Steinen. Die Inselpolizei ist ebenfalls vor Ort und versucht der aufgebrachten Menge Einhalt zu gebieten. Bislang erfolglos, wie es mir scheint.

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt