Étienne scheint mir anzusehen, dass ich an mir zweifle. Er hat wirklich ein viel feineres Gespür, als ich ihm zugetraut hätte. Offenbar ist er nur äußerlich ein grober Klotz.
»Ich denke, wenn es auch nur eine winzige Hoffnung für uns gibt, diese Flüche loszuwerden, sollten wir sie ergreifen. Ganz egal, von wo sie kommt.«
»Es gibt Grenzen«, erwidere ich.
Seymour wirbelt herum. »Das kann nur jemand sagen, der nicht unter seinem Fluch leidet.«
»Ich leide!«, protestiere ich.
»Aber ganz offensichtlich nicht genug!« Seymours Augen funkeln voller Verachtung. »Denn wenn das so wäre, würden Sie keine helfende Hand ausschlagen – ganz egal, ob sie einem Menschen oder einem Elfen gehört.«
»Der Zweck heiligt nun einmal nicht die Mittel«, fauche ich zurück. Mein ganzer Körper verspannt sich. Ich sitze aufrecht wie ein Ladestock. »Ja, ich leide unter meinem Fluch«, knurre ich zähneknirschend. »Aber das ist eben der Preis, den ich dafür bezahlen muss, dass mein Land den Krieg gegen Ellyrien gewonnen hat. Wenn ich durch mein Leid verhindern kann, dass die Elfen zurückkommen und mit ihrer Magie alles vernichten, das mir lieb und teuer ist, dann werde ich das tun.«
»Dieses Land ist mir doch scheißegal«, entgegnet Seymour. »Ich bin kein Soldat. Und ich habe mich nie freiwillig-«
»Mit dieser Einstellung wären Sie auch ein beschissener Soldat!«, falle ich ihm ins Wort.
Seymour sieht aus, als wollte er mich mit bloßen Händen erwürgen. Zwei blonde Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn und sein Gesicht ist krebsrot angelaufen. »Wissen Sie was?«, zischt er. »Sie haben sich lediglich daran gewöhnt, eine Drude zu sein. Sie sind wie eines dieser dämlichen Weiber, die sich einreden, dass ihr Ehegatte sie liebt, auch wenn er ihnen diese Liebe bloß mit den Fäusten beweist. Sie sind zu bequem, um sich von der Ursache Ihres Leids zu befreien.« Er lächelt verschlagen. »Aber vielleicht mögen Sie es auch, verprügelt zu werden.«
Ich bebe vor Zorn. »Wie können Sie es wagen?«
»Das reicht jetzt, Seymour«, sagt Étienne. »Betty hat einen harten Tag hinter sich und vielleicht sollten wir ein andermal-«
»Deine Betty hat offensichtlich keinerlei Interesse daran, sich von ihrem Fluch zu befreien«, widerspricht Seymour. »Und noch dazu hat sie diesen Faucon hergelockt. Jetzt weiß er über uns Bescheid. Wegen deiner Betty werden wir alle draufgehen.« Er schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Wach endlich auf, Étienne, und versuch wenigstens für fünf Minuten mal nicht mit dem zu denken, was sich zwischen deinen Beinen befindet.«
»Sie konnten mich von Anfang an nicht leiden«, erwidere ich. Meine Stimme zittert vor Empörung. »Noch bevor Sie wussten, dass ich verflucht bin.«
Seymour scheint mir jedoch gar nicht zuzuhören. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt Étienne.
»Ich bin wach, mein Freund.« Étienne wirft Seymour einen finsteren Blick zu. »Und deswegen erinnere ich mich auch noch genau daran, dass wir damals beschlossen haben, allen Verfluchten zu helfen. Nicht bloß denen, die uns in den Kram passen.«
»Natürlich.« Seymour schnaubt höhnisch. »Deine Motive in Bezug auf Mademoiselle Pommier sind lupenrein.« Er betrachtet mich mit dünnen, blutleeren Lippen. »Aber wenn du das wirklich durchziehen willst, Étienne. Wenn du uns, Isabel und alles, wofür wir jahrelang gearbeitet haben, in Gefahr bringen willst, nur, um dieses Weibsbild ins Bett zu bekommen, dann hoffe ich wirklich, dass sie es wert ist.« Dunkel fügt er hinzu: »Oder war.« Er schüttelt noch einmal verständnislos den Kopf, dann wendet er sich ab und geht zur Tür.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...