55) Ein Traum

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Étienne schweigt. Sein Kehlkopf hebt und senkt sich.

»Es hat Sie gequält, in den Dienstbotenunterkünften aufzuwachsen, während Ihr Bruder die ganze Liebe, Aufmerksamkeit und finanzielle Freigiebigkeit Ihres Vaters genießen durfte.«

»Nein«, antwortet Étienne kopfschüttelnd. »Das ist es nicht, was mich gequält hat - und das weißt du ganz genau.« Er verschränkt die Arme vor der Brust, sodass sein Hemd über dem Bizeps spannt. »Es hat mich gequält, meine Mutter so leben zu sehen. Mit der Schande und den abfälligen Kommentaren der anderen Bediensteten. Und zu sehen, dass mein Vater nicht den Mut hatte, ihr beizustehen.«

»Sie ist früh gestorben, nicht wahr?«, fragt Seymour unvermittelt.

Étienne hebt und senkt die Schultern. »Früher als es nötig gewesen wäre.«

»Sie war krank«, fährt Seymour unerbittlich fort.

Cumin und Poireau tauschen erneut Blicke. Das Drama, das sich vor ihren Augen entfaltet, scheint sie bestens zu unterhalten.

»Woher weißt du das?«, fragt Étienne tonlos.

»Ich habe meine Quellen«, erwidert Seymour. »Ihre Mutter war krank, Monsieur Romarin, und Ihr Vater hat nichts getan, um ihr zu helfen.«

»Es gab nichts, was-«

»Ihr Vater war ein reicher Mann. Er hätte etwas unternehmen müssen.«

»Er konnte nicht-«

»Nein«, stimmt Seymour ihm zu. »Jedenfalls nicht, ohne seinen Fehltritt vor der ganzen Welt zu offenbaren. Erst später, als es sich nicht mehr abstreiten ließ, hat er zu Ihnen gestanden. Und das wohl auch nur, damit Sie sich nicht noch einmal vor seinen Angestellten verwandeln. Damals hat es schließlich schon genug Gerüchte rund um Ihre Familie gegeben.«

»Was willst du mir damit sagen?«, knurrt Étienne. »Dass mein Vater ein schlechter Mensch und ein noch mieserer Vater war? Das weiß ich doch längst.«

»Ich zeige Ihnen nur den Weg auf, der Sie hierher geführt hat.« Seymour tritt noch näher an die Gitterstäbe heran. Wenn Étienne sich strecken würde, könnte er ihn vermutlich erreichen, am Kragen packen und schütteln. Seine blassblauen Augen wirken im flackernden Schein der Laternen beinahe farblos. »Sie sind auf der Suche nach einem Heilmittel, das es nicht gibt, Monsieur Romarin. Die Vergangenheit ist unveränderlich. Ihre Mutter ist tot. Und gegen das Joumin-Blut, das sie Ihnen vererbt hat, können Sie auch nichts unternehmen.« Er senkt die Stimme. »Also ... warum dieser ganze Zirkus?«

Étiennes Miene ist finster wie eine sternenlose Nacht. Ich kann nur erahnen, welche Dämonen Seymour mit dieser kleinen Rede geweckt hat.

»War es das wert?«, fragt Seymour weiter. »Diese armen, verfluchten Seelen zusammenzusammeln und ihnen grundlos Hoffnung zu machen? Fühlen Sie sich dadurch besser? Tut es dann weniger weh?«

Étienne scheint nur noch mit Mühe an sich halten zu können. Er blinzelt mehrmals schnell hintereinander. »Du kannst das vielleicht nicht verstehen, Momo, aber ich glaube wirklich, dass es Hoffnung gibt. Ich glaube, wir können diesen Fluch besiegen.«

»Und womit?« Seymour kräuselt angewidert die Lippen. »Mit diesem Elfenmädchen?« Er macht einen Schritt zurück und mustert Étienne mit einem Ausdruck von Schmerz und väterlicher Enttäuschung. »Wir werden tot sein, lange bevor sie ihre Fähigkeiten kontrollieren lernt.«

»Und das ist für dich Grund genug, aufzugeben?«

»Sie jagen Schatten hinterher, Monsieur Romarin«, erwidert Seymour. »Und diese Schatten werden nicht nur Sie töten, sondern auch alle, die Ihnen vertrauen.«

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt