»Rein, rein, kommt rein, schnell«, flüstert sie und schiebt das Mädchen und mich zu der offen stehenden Terrassentür. »Und du ...« Sie scheint mit dem Stier zu reden.
Irritiert sehe ich mich um, doch der Bulle ist verschwunden. Hinter mir steht Étienne, regennass und splitterfasernackt.
»N'abend«, sagt er mit einem kurzen Kopfnicken und einem Lächeln, das mit jeder Sekunde, die ich ihn fassungslos anstarre, mehr zu einem Grinsen heranwächst.
Dann werde ich von Adeline de Cinc Estrellia an der Schulter gepackt und ins Innere des Anwesens geschoben.
»Da draußen stehen drei Angehörige des Corps«, bemerkt Seymour Bouleau, der auf einmal neben mir steht. »Die sind bestimmt nicht zum Plaudern gekommen. Was soll ich ihnen sage?«
»Halte sie einfach hin«, erwidert Adeline de Cinc Estrellia. »Ich komme gleich und rede mit ihnen.«
Seymour fährt auf dem Absatz herum und rauscht davon.
Vollkommen überfordert mit der Situation lasse ich meinen Blick schweifen. Mir wird bewusst, dass ich mich in dem Salon aus Étiennes Traum befinde.
»Betty?«
Hellblaue Polstermöbel, malvefarbene Tapeten, Bücherregale, Vitrinen und ein weißer Flügel.
»Betty?«
Sogar der Geruch nach Vanille und Essig ist genau so, wie ich es in Erinnerung habe.
»Betty?«, fragt Étienne zum dritten Mal.
Ich blinzele verwirrt, als mir bewusst wird, dass es sich dabei um meinen Namen handelt. »Ja?«
»Schön, dass du gekommen bist«, sagt Étienne.
In diesem Moment verlassen mich meine Kräfte. Meine Knie werden weich, meine Augen füllen sich mit Tränen und mir entweicht ein langgezogener Schluchzer. Ich lege eine Hand um meinen schmerzenden Arm und sinke gegen das nächstbeste Sofa.
Adeline de Cinc Estrellia hält mich fest, damit ich nicht auf dem Boden lande. »Étienne, mach dich zur Abwechslung mal nützlich und bring sie nach oben.« Sie schlägt ihm mit dem Handrücken gegen den muskulösen Oberarm. »Und zieh dir gefälligst etwas an!«
»Au«, macht Étienne.
Adeline wirft ihm einen drohenden Blick zu und zischt: »Jetzt.«
»Ich mach ja schon«, mault Étienne, nimmt eine Decke vom Sofa und wickelt sie sich um die Hüfte. Dann umfasst er meine Taille und zieht mich wieder auf die Beine. »Komm, Betty, lass uns gehen.«
»Es tut mir leid«, stammele ich. »Normalerweise bin ich nicht so ... so ...«
»Schon gut«, sagt Étienne. »Wir bringen dich jetzt erstmal nach oben und dann-«
»Nein, nein.« Ich wehre mich gegen seinen Griff, bis er innehält und ich wieder gegen das Sofa sinke. »Er hat ihn umgebracht«, schluchze ich. Tränen laufen mir über die Wangen. »Er hat ihn ... umgebracht!«
»Wer hat wen umgebracht?«, fragt Adeline de Cinc Estrellia.
Ich deute in die Richtung, in die Seymour verschwunden ist und in der ich die Haustür vermute. »Er ... der ... Captaine ...« Mir wird übel. Ich fasse mir an den Bauch und krümme mich vornüber. Im Kopf kann ich den Capitaine vor mir sehen. Wie er dem schlafenden Narcisse das Messer in die Brust gerammt hat. Das dumpfe Geräusch hallt mir noch immer in den Ohren. Das Reißen und Schaben der Klinge. Der Geruch von Blut steigt mir in die Nase. Ich muss würgen, doch weil ich seit Stunden nichts Festes mehr gegessen habe, spucke ich nur etwas Magensäure und Traubennektar auf den hübschen, cremeweißen Jouyan-Teppich. »Es ... es ... tut mir leid«, stammele ich erneut. »D-der schöne Teppich ...« Meine Wangen sind ganz heiß vor Scham. Der Geschmack von Säure mischt sich mit dem Salz meiner Tränen.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...