Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegt der Duft von Orangen in der Luft.
Ich fühle mich schwer und ein bisschen betäubt. Die Zuversicht von gestern ist verflogen. Mir wird bewusst, dass wir heute vielleicht sterben werden.
Bei dem Gedanken fühle ist es mir, als wäre ich in eine zu enge Glasflasche gepresst worden. Ich quäle mich aus dem Korbstuhl, in dem ich eingeschlafen bin, und strecke meine verkrampften Glieder – allerdings ohne das unangenehme Gefühl der Enge abschütteln zu können.
Mein Blick fällt auf Étienne, der – nachdem ich ihn gedrückt habe – am Esstisch eingeschlafen ist. Irgendwann würde ich gerne wissen, wie er mich in meiner Drudengestalt wahrnimmt, aber die Frage hat Zeit bis nach unserer Rückkehr. Wenn wir Seymour gerettet haben und noch am Leben sind, können wir unsere Zukunft besprechen. Andernfalls macht diese Unterhaltung ohnehin keinen Sinn.
Aus dem Nebenraum sind leise Stimmen zu hören.
Ich schleiche mich hinüber und entdecke Mae, die an Theos Lagerstätte vor dem Kachelofen sitzt und sich um seine Brandwunden kümmert. Dabei geht sie sehr sorgfältig und konzentriert vor. Wahrscheinlich würde sie eine ausgezeichnete Krankenschwester abgeben.
Isabel hockt auf dem Fensterbrett, lässt die Beine baumeln und späht in den dichten Morgennebel hinaus. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen und es liegt eine herbstliche Stille über dem Land. Isabels nackte Knie, die zwischen ihren Ringelstrümpfen und dem zerknitterten Rocksaum hervorlugen, sind aufgeschürft und dreckig. In den Dienstbotenunterkünften gibt es kein fließendes Wasser. Das Wasser, mit dem Mae die Wunden von Theo behandelt, stammt aus dem Brunnen in der Senke hinter dem Haus.
»Wo ist Adeline?«, frage ich und halte die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu verbergen.
»In die Stadt gefahren«, antwortet Mae. »Sie sollte bald zurück sein.«
In der vergangenen Nacht haben wir diverse Szenarien durchgesprochen. Keines davon hat sich nach näherer Betrachtung als Lösung für unser Problem entpuppt. Wenn wir nicht am verabredeten Treffpunkt erscheinen oder die Baupläne nicht bei uns haben, wird Faucon nicht zögern, Seymour zu töten. Dasselbe wird wohl auch passieren, wenn wir nicht vollzählig sind oder wenn wir irgendetwas anderes versuchen, um ihn zu überlisten.
Adeline ist jedoch nicht davon überzeugt, dass unsere Situation vollkommen hoffnungslos ist. Sie glaubt auch nicht, dass Faucon dahintersteckt. Ich habe nicht verstanden, mit welcher Begründung, aber ich denke, dass sie von uns allen am meisten Erfahrung mit Erpressungen hat. Und ich muss auch zugeben, dass es nicht Faucons üblichem Vorgehen entspricht, seine Opfer vorzuwarnen. Wenn er uns die Baupläne abnehmen und uns töten wollte, könnte er beides jederzeit bewerkstelligen und müsste uns nicht zuerst an irgendeinen Treffpunkt locken. Also vielleicht hat Adeline Recht und diesmal steckt jemand anders dahinter.
»Mademoiselle Pommier«, ächzt Theo.
»Ja?« Ich trete an sein Krankenlager und sehe auf ihn herab.
Theo sieht deutlich besser aus als gestern Abend. Seine Haut hat noch immer einen rötlichen Anstrich und sein Bart ist von der Hitze versengt, aber seine Augen sind wach und klar.
Bei diesem Anblick weiß ich, dass er durchkommen wird. Dieses Wissen verleiht auch mir neuen Mut. Vielleicht haben wir tatsächlich eine Chance.
»Ich habe noch einmal darüber nachgedacht«, murmelt Theo, während Mae seine Verbände auswäscht.
»Worüber?«
»Über den Namen auf den Plänen.« Theos Stimme klingt heiser. Genau wie Étienne und ich hat er viel Rauch eingeatmet.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...