66) Arschkröte

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Als Paul davongegangen ist, um Océane einzuholen, kann ich hören, wie Étienne einen spöttischen Laut von sich gibt. »Paul ...«

Ich fahre auf den Absätzen herum. »Was beschwerst du dich? Für dich bin ich ja offenbar nur eine gute Freundin.«

»Das war doch bloß Tarnung«, erwidert Étienne.

»Tarnung? Wofür?«

Étienne beugt sich vor und senkt die Stimme. »Für meinen Plan.«

»Was soll denn das für ein Plan sein?«, entgegne ich. »Und wieso muss es dafür so aussehen, als wären wir bloß Freunde?«

»Ich erkläre es dir.«

Ich verschränke die Arme vor dem Körper und wippe ungeduldig mit dem Fuß. »Wann?«

»Gleich.«

Isabel zupft Étienne am Ärmel und deutet zur anderen Seite des Saals hinüber. »Kann ich zu Seymour gehen?«

Étienne und ich suchen mit Blicken nach Seymour und entdecken ihn an der Rückwand des Saals in der Nähe eines Tischs mit leeren Gläsern. Er redet mit Faucon. Offenbar macht er sich keine Gedanken darüber, verdächtig zu wirken. Andererseits spielt er die Rolle von Étiennes Leibwächter. Das scheint ihn in den Augen der meisten Anwesenden beinahe unsichtbar zu machen.

»Na gut«, sagt Étienne. »Betty und ich haben sowieso etwas zu bereden.«

Während Isabel wieselflink davonhuscht, brandet hinter uns frenetischer Applaus auf.

Das Gejubel gilt Camille und Vernon Cerisier, die soeben auf dem obersten Treppenabsatz erschienen sind. Camille trägt ein atemberaubendes, cremefarbenes Kleid, das ihre zierliche Figur betont und von der Taille bis zum Saum mit funkelnden Diamanten besetzt zu sein scheint. Ihr goldbraunes Haar ist seitlich gescheitelt und fällt ihr in weichen Wellen über die Schultern.

Dagegen ist ihr untersetzt gebauter Bruder eine eher unauffällige Erscheinung. Er trägt einen Frack, der farblich auf das Kleid seiner Schwester abgestimmt ist und über seinem gewölbten Bauch spannt. Seine Wangen sind gerötet. Entweder vor Aufregung oder weil er schon ein wenig zu tief ins Glas geschaut hat.

Camille winkt, verteilt Luftküsse und bedankt sich wiederholt bei ihrem Publikum. »Vielen Dank. Es freut mich sehr, dass Sie alle gekommen sind.«

Irgendjemand steckt zwei Finger in den Mund und pfeift.

Camille lacht und streicht sich kokett die Haare aus dem Gesicht. Ich kann erkennen, dass sie noch immer die fragliche Perlenkette um den Hals trägt.

»Vielen Dank«, wiederholt Camille noch einmal. »Es ist meinem Bruder und mir eine große Ehre, Sie alle hier empfangen zu dürfen.« Ihr Lächeln verblasst und sie setzt ein ernsteres Gesicht auf. »Der Anlass unseres Zusammentreffens könnte auch nicht bedeutsamer sein. Fast hundert Jahre ist es jetzt her, dass unsere Vorfahren gemeinsam mit den tapferen Kriegern aus Jouyan gegen die Elfen aus Ellyrien in den Krieg gezogen sind. Im Angesicht einer noch viel größeren Bedrohung haben unsere Großväter das Kriegsbeil begraben, das unsere Völker seit Jahrhunderten entzweit hat. Vergessen war unsere beinahe tausendjährige Geschichte von Kriegen und Morden, von Plünderungen, Entführungen und Vergewaltigungen. Und vergessen war auch das Leid, das unser Land über Jahrhunderte durch den Norden erdulden musste.«

Ich werfe Étienne einen fragenden Blick zu, den er mit einem schwachen Schulterzucken quittiert.

»Der Krieg mit Ellyrien hat allerorts neues Leid hervorgebracht. Aber dadurch sind wir auch näher zusammengerückt und haben ein besseres Verständnis für die komplexe und reichhaltige Kultur unserer Nachbarn entwickelt. Heutzutage sind die Joumin und ihre Geldhäuser, Teestuben, Tabakhändler und Jingsu-Häuser aus unserem Stadtbild gar nicht mehr wegzudenken. Die Joumin-Gemeinschaft auf Menthe vergrößert sich stetig und wären da nicht die vielen Banden, Bettler und Taschendiebe, könnte man in Jouyan-Sin fast schon bedenkenlos einkaufen gehen.«

DrudenkussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt