Einige Stunden später sind Seymour und ich wieder zuhause. Wir haben es gerade noch geschafft, bevor der Taifun auf Land getroffen ist. Jetzt heult und brüllt der Sturm, während er um das Anwesen streift wie ein Ungeheuer auf der Suche nach Beute. Der Ozean hat die Bucht und weite Teile der Küste überspült. Das Fernsprecher-System ist zusammengebrochen.
Nur das Radio funktioniert noch.
Geistesabwesend sehe ich die Dunkelheit hinaus, während die Stimme von Paul Ispin durch den Äther zu mir ins Zimmer dringt. Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. Normalerweise klebe ich an seinen Lippen. Er hat eine so wundervolle, samtige und beruhigende Stimme.
Doch heute habe ich dafür kein Ohr. Immer wieder gehe ich den Vorfall in Andreas Haus gedanklich durch. Immer wieder sehe ich Andreas entstellte Leiche, Faucons scharf umrissene Gestalt und Étiennes wilde Tieraugen vor mir.
Wie kann jemand, der so sanft und liebevoll, lebhaft und leidenschaftlich sein kann, derart seine Menschlichkeit verlieren? Was ist das für ein grausames Schicksal, das uns Verfluchte an diesem Ort zusammengeführt hat?
Im Radio ertönt eine kurze Melodie, gefolgt von Paul Ispins Stimme, die einen ostragonischen Schlager ankündigt.
Während die Musik knarzend aus den Lautsprechern des Gloriola dringt und sich in meinem Turmzimmer ausbreitet, lege ich den Kopf gegen die Fensterscheibe und betrachte mich in dem hohen Standspiegel neben dem Bett, der nur halb mit einem weißen Tuch verhängt ist. Eine einzelne Öllampe auf dem Nachttisch erhellt mein Gesicht. Ich sehe müde aus. Erledigt. Besiegt. Und das Schlimme daran ist: Ich fühle mich auch so.
Mein Spiegelbild flackert. Kurz kann ich meine Drudengestalt erkennen.
Als Drude sehe ich für jedes meiner Opfer anders aus. Ich selbst sehe mich als hässliches, altes Weib mit grauer Haut und langen, schlohweißen Haaren. Mein Gesicht ist eingefallen, die Haut papierdünn, meine Augen sind tief eingesunken und meine Finger knochig und gebogen wie Krallen. Es ist kein schöner Anblick.
»Betty?«
Ich wende mich vom Spiegel ab und entdecke Isabel, die in der Zimmertür steht und nicht recht zu wissen scheint, ob sie hereinkommen darf.
»Machst du das?«, frage ich mit einem kurzen Kopfnicken zu der Schreckensgestalt, die mich aus dem Spiegel heraus anstarrt.
»Findest du das schlimm?«, erwidert Isabel.
Ich wische mir mit der Hand über die Augen. »Nein. Heute nicht. Mein Fluch ist nichts gegenüber dem, was Étienne durchmachen muss.«
Isabel zögert. Mehrfach sieht es so aus, als wollte sie etwas sagen und jedes Mal scheint sie es sich anders zu überlegen. Doch dann trifft sie offenbar eine Entscheidung, übertritt mit einer resoluten Bewegung die Schwelle und kommt ins Zimmer. »Der Drudenfluch kann viel Unheil anrichten«, sagt sie. »Aber er ist auch sehr mächtig.«
»Ach ja?«, murmele ich und wende mich wieder dem Sturm zu. »Was weißt du über Flüche? Oder über Magie?«
»Nicht viel«, gibt Isabel zu. In der Glasscheibe kann ich sehen, wie sie sich bückt und ihre geringelten Kniestrümpfe hochzieht. »Nur das, was Theo und ich in den alten Büchern gefunden haben, und ein paar Dinge, die ich einfach weiß. So wie Vögel wissen, wie man die Flügel ausbreitet und fliegt.«
»Was du über Flüche gesagt hast, war das wahr?«, frage ich, obwohl mir gar nicht der Sinn nach einer Unterhaltung steht. Seymour und ich haben sowieso schon alles erzählt, was die Anderen wissen müssen. Und ich bin müde. So unendlich müde. Das Einzige, das mich davon abhält, die Augen zu schließen und einzuschlafen, ist der Umstand, dass ich es auf keinen Fall verpassen will, wenn Étienne nach Hause kommt.
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Drudenkuss
FantasyElisabeth Pommier leidet unter einem Drudenfluch. Das bedeutet, sie muss jede Nacht ein schlafendes Opfer heimsuchen, um es zu drücken. Sie macht das Beste aus ihrer Beeinträchtigung und nutzt die resultierenden Albträume ihrer Opfer, um sich als Sc...