Kapitel 20

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Die nächsten Wochen und Monate vergingen wie im Flug. Nun da mir niemand mehr nach dem Leben trachtete, fand ich tatsächlich Gefallen am Leben in einem Schloss. Wie angekündigt, war eine Schneiderin gekommen und hatte meine Maße genommen. Bald darauf erhielt ich einen ganzen Kleiderschrank voller passender Kleider, allesamt in schwarz, verstand sich. Die Kleider waren hochwertig und sahen wirklich schön an mir aus, doch gleichzeitig hätte ich Hosen bevorzugt. Das kam für eine Dame im Hause Dimitrescu aber nicht infrage, wie Lady Dimitrescu unerbittlich betonte. So beugte ich mich ihren Wünschen, wenngleich die Hosen zumindest die hässlichen Narben an meinem rechten Bein verdeckt hätten.

Die Verbände waren verschwunden, doch zurückgeblieben waren hässliche, schwulstige Narben, die mein Bein bis zum Knöchel bedeckten. Auch das Humpeln würde nie verschwinden, wenngleich ich mich allmählich daran gewöhnte. Es ärgerte mich zwar, dermaßen langsam zu sein, aber da ich froh war, überhaupt noch laufen zu können, lehnte ich Belas Angebot, mich zu tragen, in den meisten Fällen ab. Cassandra und Daniela zogen mich manchmal mit meiner Langsamkeit auf, wobei mir Daniela dann und wann noch einen schuldbewussten Blick zuwarf. Sie hasste diese Narben, genauso wie Bela es tat, doch wir mussten alle fortan damit leben.

Generell hatte ich das Gefühl, Belas Schwestern und womöglich sogar ihrer Mutter nähergekommen zu sein, wenngleich ich die Furcht vor ihnen noch nicht ganz abgelegt hatte. Lange Zeit waren sie mir nur skeptisch und reserviert begegnet, zwar mit dem Versprechen, mir kein Haar zu krümmen, aber eigentlich nur, weil sie Bela nicht wieder verletzen wollten. Wenn ich überlegte, wann es zu diesem Wandel gekommen war, wann dieser Punkt gekommen war, ab dem sie ihre Skepsis abgelegt und mir erstmals Sympathie entgegengebracht hatten, kam ich nur zu einem Schluss. Ein Ereignis hatte es gegeben, das unser friedliches und geradezu langweilig idyllisches Zusammenleben unumkehrbar verändert hatte.

Es war zu Beginn des Sommers gewesen. Sobald der Frühling Einzug gehalten hatte und die Temperaturen mit jedem Tag höher geklettert waren, hatte sich auch mein bisher recht eintöniges Leben im Schloss verändert. Bis dahin war der Tagesablauf stets gleich gewesen. Nach dem Aufstehen hatte ich Zeit mit Bela verbracht oder wenn sie beschäftigt war, ein wenig gelesen. Nach dem gemeinsamen Abendessen, an dem nun auch ich teilnahm, waren wir mit ihrer Familie am Feuer gesessen, wobei ich nach und nach sogar gewagt hatte, mich an den Gesprächen zu beteiligen. Irgendwann, wenn ich drohte, in Belas Armen einzuschlafen, war ich ins Bett gegangen und am nächsten Tag begann das Ganze von vorne.

Als es draußen jedoch immer wärmer wurde, hatte Bela erstmals angeboten, Zeit außerhalb des Schlosses zu verbringen. Es war höchst ungewohnt und im ersten Moment auch ein wenig beunruhigend gewesen, Bela und ihre Schwestern draußen zu sehen, doch mir war versichert worden, dass erst Temperaturen unter zehn Grad Celsius für sie gefährlich wurden. Jetzt im Sommer, wenn das Thermometer jeden Tag mindestens zwanzig Grad anzeigte, bestand keine Gefahr für sie. So hatte ich fast ein halbes Jahr nach meiner Ankunft im Schloss nun endlich wieder die Außenwelt gesehen. Wir hatten Spaziergänge durch die blühende Natur gemacht, uns auf sonnenbeschienene Wiesen gelegt und einmal sogar in einem kleinen Teich gebadet.

Ich hielt mich während all dieser Aktivitäten nahe an Bela, wenngleich ich mich inzwischen recht gut mit ihren Schwestern unterhalten konnte und sogar manchmal mit ihnen witzelte. Nur vom Dorf hatten wir uns stets ferngehalten. Das ergab schließlich auch Sinn, da wohl unmittelbar Panik ausbrechen würde, wenn sich die Frauen aus Haus Dimitrescu dort blicken ließen. Dennoch war es das Dorf, in dem ich geboren und aufgewachsen war, und eine unerklärliche Sehnsucht zog mich dorthin. Mir war bewusst, dass meine Kindheit im Waisenhaus nicht gerade schön gewesen war. Ich musste diese Zeit deshalb nicht romantisieren, doch zumindest einen Blick wollte ich dorthin werfen, einen kurzen Blick, um zu bestätigen, dass mein jetziges Leben besser war, als das, was ich dort hätte haben können.

Blood-red Kisses - Resident Evil Village FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt