Nervös verlagerte ich meinen Schwerpunkt vom linken Bein aufs rechte und zupfte unruhig am Saum meines Kleides herum. „Stell dich nicht so an, sie werden dir schon nicht den Kopf abreißen!“, kommentierte Cassandra stichelnd und warf mir einen spöttischen Blick zu. Zugegebenermaßen empfand ich ihre Worte jedoch alles andere als beruhigend. Vermutlich hätte sie recht, wenn es sich bei den Personen, die ich nun treffen sollte, um normale Menschen handeln würde, aber das war offensichtlich nicht der Fall. „Alles gut, Baby! Das ist nur ein gewöhnliches Familientreffen. Keine große Sache. Meistens sind diese Treffen einfach nur unfassbar öde. Das Schlimmste, das dich erwarten könnte, ist also Langeweile“, versuchte nun auch Bela, meiner Nervosität entgegenzuwirken.
So unbeschwert ihre Worte auch klangen, spürte ich doch deutlich, wie angespannt sie gerade war. Das war ein entscheidender Nachteil meiner Fähigkeit: Man konnte mich nicht mehr anlügen, selbst wenn die Lüge gutgemeint war. Ich teilte Belas Anspannung und Sorge, wenngleich ihre Aussage vordergründig richtig gewesen war. Es handelte sich um ein gewöhnliches Familientreffen zwischen Mutter Miranda und ihren Geschöpfen, die sie als ihre Kinder bezeichnete, zu dem ich eingeladen worden war. Na ja, von einer Einladung konnte nicht wirklich die Rede sein, sonst hätte ich schließlich absagen können. Nein, Mutter Miranda verlangte, dass ich die Familie Dimitrescu zum heutigen Treffen begleitete und mich ihren übrigen Kindern, sozusagen Alcinas Geschwistern, vorstellte.
Ich hatte bereits einiges von Karl Heisenberg, Salvatore Moreau und Donna Beneviento gehört, wobei Alcina keinen der drei als Bruder oder Schwester ansah. Die Formulierung der Kinder stammte ganz allein von Mutter Miranda und warf die Frage bei mir auf, ob ich nun auch als eines ihrer Kinder zählte. Um ehrlich zu sein, gefiel mir der Gedanke ganz und gar nicht. Wenngleich ich schon viel von Mutter Mirandas anderen Kindern gehört hatte, war ich ihnen noch nie begegnet und war dementsprechend nervös. Gerade standen wir vor einem großen, verfallenen Gebäude, das einmal eine Kirche gewesen sein mochte, und warteten noch damit hineinzugehen. Ich hatte mich erst einmal sammeln müssen, bevor ich mich diesem Treffen stellte.
Vermutlich war es tatsächlich ein reguläres Treffen, das sich nur von den vorherigen unterschied, weil nun auch ich daran teilnahm. Jetzt, wo ich mich erfolgreich verwandelt und meine Kräfte entdeckt hatte, war es doch selbstverständlich, dass mich Mutter Miranda dabeihaben wollte. Das war es zumindest, was ich mir hartnäckig einredete, bevor ich Alcina und ihren Töchtern ins verfallene Gebäude folgte. Immerhin konnte ich wieder selbst gehen und musste nicht hineingetragen werden, denn solch einen Auftritt hätte ich durchaus als peinlich empfunden. Glücklicherweise war mein Fuß vollständig nachgewachsen, wenngleich es ganze fünf Tage gedauert hatte. Der Regenerationsprozess war mir quälend lang vorgekommen, aber natürlich brauchte ein ganzer Fuß länger als ein einzelner Finger oder eine Zunge.
Ich sollte mich jedoch glücklich schätzen, da es genug Leute gab, deren Gliedmaßen nicht einfach nachwuchsen. Wenn normale Menschen einen Fuß verloren, mussten sie sich damit arrangieren, den Rest ihres Lebens mit einem Fuß auszukommen. Von dem her war das wirklich Meckern auf hohem Niveau von mir. Einige Wochen waren seit dem Vorfall mit Alcinas Drachenform vergangen und ich konnte zufrieden behaupten, dass wir uns besser denn je verstanden. Bela hatte ihrer Mutter verziehen und auch ich verschwendete kaum mehr einen Gedanken daran, wenngleich ich diese Drachenform nie wieder sehen wollte. Der Frühling hielt Einzug und es war inzwischen sogar warm genug, dass Bela, Daniela und Cassandra nach draußen konnten. Die Temperatur schwankte zwar noch von Tag zu Tag, aber heute waren wir eindeutig auf der sicheren Seite.
„Ah, da seid ihr ja! Wir haben schon gewartet!“, lauteten Mutter Mirandas begrüßende Worte, als wir die ehemalige Kirche betraten. Wenn es wirklich eine Kirche gewesen war, ergab es Sinn, dass sie nun leer stand. Schließlich war Mutter Miranda die einzige Göttin, die das Dorf ihrer eigenen, selbstverständlich objektiven Meinung nach brauchte. Eilig entschuldigte sich Alcina für unser Zuspätkommen, das ich gar nicht als so gravierend wahrgenommen hatte, und nahm dann auf einer großen Bank Platz, die so aussah, als sei sie speziell für sie angefertigt worden. Ich tat einige zögerliche Schritte in den großen Raum, während ich mich vorsichtig umsah.
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Blood-red Kisses - Resident Evil Village FF
FanfictionIn einem kleinen rumänischen Dorf wird ein achtzehnjähriges Waisenmädchen als Opfergabe zum Schloss Dimitrescu geschickt. Sie weiß nicht, was dort mit ihr geschehen soll, geht aber vom Schlimmsten aus. Dennoch ahnt sie noch nicht einmal, was sie dor...