Epilog

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Nahe eines kleinen, rumänischen Dorfes tobte ein unbarmherziger Schneesturm, der selbst den eisigen Winter noch wie lauwarmes Frühlingswetter wirken ließ. Große Schneeflocken wurden vom peitschenden, kalten Wind durch die Luft gewirbelt und machten es nahezu unmöglich, die eigene Hand vor den Augen zu sehen. Mitten durch diesen menschenfeindlichen Schneesturm bewegte sich eine einzelne zusammengekrümmte Gestalt. Die Kapuze des gestohlenen Mantels hatte sie tief ins Gesicht gezogen, um sich vor den Schneekristallen, die durch den Wind eher zu Geschossen wurden, zu schützen. Enger zog die schmächtige Gestalt den Mantel um sich, unter dem der zerrissene, mit Spitze besetzte Stoff eines schwarzen Kleides hervorlugte.

Mühsam kämpfte sich die einsame Gestalt Schritt für Schritt durch das dichte Schneegestöber, ohne Ziel oder Rückzugsort. Sie wusste nicht, wohin sie nun gehen sollte, da sie den einzigen Ort, an den sie gehörte, ihr Zuhause verloren hatte. Sie würde bestimmt nicht dorthin zurückgehen, konnte es schlichtweg nicht. Die schrecklichen Bilder geisterten immer wieder durch ihren Kopf, ließen ihr keine Ruhe. Sie war dort gewesen, im Magen der Bestie. Anders konnte sie das Wesen, dass sie monatelang als „Mutter“ bezeichnet hatte, nicht mehr nennen. Sie hatte getan, was keine Mutter jemals tun sollte. Sie hatte sie gefressen.

Ein Schaudern überkam die einsame Gestalt, als sie sich an diese schrecklichen Momente erinnerte, in denen ihr Leben auf der Kippe gestanden hatte. Dunkelheit, stickige, sauerstoffarme Luft und ein furchtbarer Schmerz, der sie von allen Seiten gleichzeitig heimgesucht hatte. Magensäure. Das aggressive Zeug hatte keine halben Sachen gemacht und unmittelbar begonnen, ihre Haut zu verätzen. Sie konnte sich noch erinnern, wie ihre Regenerationsfähigkeit augenblicklich gegen die Magensäure angekämpft hatte, versucht hatte, jedes weggeätzte Hautstück unmittelbar zu ersetzen. Es war offensichtlich gewesen, welche Seite auf längere Sicht gewonnen hätte. Spätestens wenn ihre Kräfte aufgebraucht gewesen wären, hätte die Magensäure die Oberhand gewonnen  und sie wäre unweigerlich…verdaut worden.

Der bloße Gedanke ließ sie zusammenzucken und sie war heilfroh, dass es anders gekommen war. Zu ihrer grenzenlosen Überraschung hatte sie den Dolch in ihren Händen gefunden, an den sie sich die ganze Zeit verzweifelt geklammert hatte. Sie hatte ihn zu keinem Zeitpunkt losgelassen und da war er nun, ihr Rettungsanker. In diesen wenigen Minuten, in denen ihr Körper gegen die Magensäure angekämpft hatte und ihr Geist von Todesangst geflutet gewesen war, hatte sie nur ein einziger Gedanke beherrscht. Nein, es war weniger ein Gedanke als ein Instinkt gewesen, eine Handlungsanweisung, die direkt aus ihrem Wunsch zu überleben entstanden war.

Also hatte sie den Dolch genommen und immer und immer wieder auf dieselbe Stelle eingestochen. Sie konnte sich im dunklen, stickigen Magen nur schwer orientieren, doch sie hatte gehofft, die richtige Seite gewählt zu haben. Während sie drohte, das Bewusstsein zu verlieren, und ihr Körper seinen Kampf allmählich verlor, stieß sie verzweifelt auf diese Stelle ein und erschuf ein immer größer werdendes Loch. Ihr panischer Überlebenswille ließ Unmengen an Adrenalin durch ihre Adern strömen und irgendwann war der Moment gekommen, als sie sich ausreichend durch die Magenschleimhaut gegraben hatte und auf Licht traf. Das zunächst winzige Loch zur Freiheit schenkte ihr neue Hoffnung und mit ihren verbleibenden Kraftreserven hatte sie es erweitert, bis sie tatsächlich hindurchpasste.

Völlig am Ende war sie durch das Loch, das sie der Bestie in den Körper gegraben hatte, auf den harten Steinboden gefallen, doch noch war sie nicht in Sicherheit gewesen. Das Monster tobte und schrie vor Schmerz. Als es sie erkannte, rief es ihr etwas in der verzerrten Stimme zu, Worte, die sie niemals vergessen würde. „Verschwinde und lass dich nie wieder in meinem Schloss blicken! Solltest du jämmerliches Etwas es jemals wagen zurückzukehren, werde ich dafür sorgen, dass du tot bleibst!“ Das hatte sie sich nicht zweimal sagen lassen. So schnell es ihr erschöpfter Körper zuließ, war sie weggerannt, weg von jenem Monster, das sie „Mutter“ genannt hatte, und diesem furchtbaren Schloss.

Erst als sie genug Entfernung zwischen sich und den Ort des Geschehens gebracht hatte und sich außerdem Zeit zum Regenerieren genommen hatte, konnte sie wieder klar denken. An ihrer Entscheidung änderte das jedoch nichts. Alles in ihr sehnte sich danach, Bela wiederzusehen, doch dazu konnte sie sich schlichtweg nicht durchringen. Alcina hatte ihren Standpunkt mehr als deutlich gemacht und würde sie umbringen, wenn sie zurückkehrte. Es klang zwar beinahe lächerlich, da sie einst noch gesagt hatte, dass sie lieber tot als von Bela getrennt wäre, doch dieser Vorfall hatte sie eines Besseren belehrt. Sie konnte noch so oft sagen, dass ihr Sterben nichts ausmachen würde, dass sie lieber tot als einsam wäre, aber nun wusste sie, wie falsch dieser Gedanke war.

Dort, in diesem Magen, war sie dem Tod näher gewesen als jemals zuvor und angesichts des beinahe sicheren Todes war ihr etwas klar geworden: Sie wollte leben! Sie wollte um jeden Preis leben, auch wenn das hieß, Bela und ihr bisheriges Leben zurückzulassen. Sie dachte nicht einmal im Traum daran, dorthin zurückzukehren und sich töten zu lassen! Wenn Alcina zur Vernunft käme oder sich von ihren Töchtern überzeugen ließe, könnte sie schließlich zu ihr kommen! Allerdings ging sie nicht davon aus, dass das passierte.

Seit dem Vorfall ging ihr etwas, das Bela gleich nach ihrer Ankunft im Schloss gesagt hatte, nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte gesagt, dass sie so lange bliebe, bis sie kaputtginge oder sie die Lust an ihr verliere. Natürlich hatte sich alles geändert, als sie und Bela sich ineinander verliebt hatten, doch inzwischen hatte sie Zweifel. Was war, wenn der zweite Fall nun doch eintraf, wenn sie nicht kaputtging, sondern sie, das hieß Bela und ihre Familie, die Lust an ihr verloren hatten? Wie konnte man Alcinas Verhalten anders erklären? Sie hatte sie in ihre Familie aufgenommen und als ihre Tochter akzeptiert, doch nun hatte sich das Blatt gewendet und Alcina wollte sie nur noch tot sehen.

Vielleicht verhielt es sich bei den anderen genauso? Die Familie Dimitrescu lebte schon seit mehreren Jahrzehnten und sie würden noch die Ewigkeit überdauern. Womöglich war sie nur ein spaßiger Zeitvertreib für sie gewesen, eine nette Abwechslung vom eintönigen Alltag. Sie hatten sie bei sich aufgenommen, hatten ihre Gesellschaft genossen, doch jetzt war wohl der Zeitpunkt gekommen, an dem sie ihrer überdrüssig wurden. Letztendlich hatte sie nur einen verrückten Traum gelebt, eine naive Wunschvorstellung. Sie war nie ein wirklicher Teil der Familie Dimitrescu gewesen. Sie war eine kurzfristige Abwechslung, ein netter Zeitvertreib für sie gewesen, und nun hatten sie das Interesse an ihr verloren.

Zutiefst enttäuscht, aber auch von einer seltsamen Entschlossenheit erfüllt, setzte die einsame Gestalt ihren Weg durch den Schneesturm fort. Ihre Entscheidung war gefällt. Sie wollte leben und wenn das hieß, die Familie Dimitrescu und ihr Leben bei ihnen zurückzulassen, war sie bereit dafür! Sie war nicht wütend und auch nur ein wenig traurig. Die letzten zwei Jahre waren trotz allem schön gewesen, aber dieser Teil ihres Lebens gehörte nun der Vergangenheit an. Sie war bereit weiterzuziehen.

Ende

Blood-red Kisses - Resident Evil Village FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt