Überrascht musterte ich Alcina und dann den Dolch in meiner Hand. Hatte ich sie erwischt? „Entschuldigung, ich wollte das nicht. Du hast mich erschreckt“, entschuldigte ich mich hastig, doch glücklicherweise sah es nicht so aus, als hätte ich Alcina verletzt. Das war auch überhaupt nicht meine Intention gewesen. Nach unserem Streit hatte ich frische Luft gebraucht und war nach draußen gestürmt. Während ich mich allmählich abreagiert hatte, war ich über das Schlossgelände gelaufen, wobei es meine Schritte unwillkürlich zur Kapelle gezogen hatte. Vielleicht lag das daran, dass es schneite und ich mich dort zumindest unterstellen konnte, womöglich hatte mich aber auch der Ort an sich angezogen.
Nur allzu gut erinnerte ich mich daran, was zuletzt passiert war, als ich hier gewesen war. Ein Jahr war seit dem Vorfall an der Kapelle vergangen, als Alcina die Kontrolle verloren und mich beinahe gefressen hätte. So traumatisierend dieses Erlebnis auch gewesen war, die Erinnerung hatte auch etwas Schönes an sich. An diesem Tag waren wir uns näher gekommen. Alcina hatte damit begonnen, mich als ihre Tochter anzusehen, und nun standen wir wieder hier, ein Jahr später, nach diesem furchtbaren Streit. Völlig in Gedanken verloren hatte ich den Dolch betrachtet und mich an dieses Erlebnis vor einen Jahr erinnert, sodass ich Alcinas Schritte wohl überhört haben musste. Meine Wut war zwar noch nicht ganz verflogen, aber nachdem ich es zuvor eindeutig zu weit getrieben hatte, wollte ich den Streit auch nicht fortsetzen.
„Das, was ich vorhin gesagt habe, tut mit unglaublich leid. Also, dass du nicht meine Mutter wärst…“, setzte ich dann doch zu einer Entschuldigung an, doch weiter kam ich nicht. „Und deshalb willst du mich umbringen? Verkauf mich nicht für dumm! Warum sonst solltest du ausgerechnet hierhin gehen? Den Dolch hältst du schließlich auch in den Händen!“, fuhr mich Alcina zornig an und dieses Mal wich ich sogar vor ihrer Wut zurück. Irgendetwas war anders. Vorhin während des Streits war sie auch schon wütend gewesen, doch jetzt wirkte sie geradezu bedrohlich. „Nein…Nein, das verstehst du falsch! Ich würde nie auf die Idee kommen, dich umzubringen! Ich wollte den Dolch nur anschauen und habe nicht damit gerechnet, dass du plötzlich hinter mir stehst!“, stammelte ich völlig überfordert von ihrem Vorwurf.
Natürlich hatten wir uns gestritten, aber das war doch noch lange kein Grund, um einander umzubringen. Ich wusste nicht, wie Streitigkeiten in der Familie Dimitrescu abliefen, doch das klang eindeutig zu extrem. „Wie kannst du es wagen! Nach allem, was ich für dich getan habe!“, fuhr Alcina mit funkensprühenden Augen fort, ohne auf meine Rechtfertigung einzugehen. Dachte sie wirklich, dass ich vorgehabt hatte, sie zu töten? Na ja, dass ich gleich nach einem Streit die einzige Waffe in der Hand hielt, mit der man sie töten konnte, war ein ungünstiger Umstand, und ich verstand, dass es da zu Missverständnissen kommen konnte. Dennoch musste sie mir doch glauben.
„Komm schon, ich bin doch viel zu schwach, um dich zu töten, selbst wenn ich es vorhätte! Das kannst du doch nicht wirklich glauben?“, argumentierte ich hastig, doch Alcina wollte sich einfach nicht beruhigen. Eigentlich wäre es sinnvoll gewesen, den Dolch wegzulegen, um meine guten Absichten zu beweisen, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Man könnte es eine Vorahnung oder einen angeborenen Instinkt nennen, aber Alcina wirkte in ihrer Wut viel zu angsteinflößend, um den Dolch wegzulegen. Was wäre, wenn sie sich vergaß, wenn sie für eine Sekunde vergaß, wie sterblich ich noch immer war? Tatsächlich deutete alles darauf hin, dass sie soeben blind vor Wut war.
„Ich habe dich in meinem Schloss willkommen geheißen, in meiner Familie! Ich habe dich wie meine eigene Tochter behandelt und so dankst du es mir! Das wirst du bitter bereuen!“, schrie Alcina nun beinahe und ich zuckte unwillkürlich zurück. Ich wollte einen Schritt zurückweichen und wäre dabei fast über den Sarg gestolpert, in dem der Dolch aufbewahrt wurde. Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, als ich verstand, dass ich in der Falle saß. Aber ich hatte doch nicht wirklich einen Grund, mich vor Alcina zu fürchten? Würde sie mir tatsächlich etwas antun? „So viel Mühe für einen einfachen Mensch, der mir bei der kleinsten Kritik in den Rücken fällt! Ich werde dich lehren, Respekt vor mir zu haben!“, drohte Alcina und mit Entsetzen sah ich, wie sich ihr Körper zu verändern begann.
Ich kannte den Anblick nur allzu gut, wusste, wie das Ergebnis dieser Verwandlung aussehen würde. Während bereits die fledermausartigen Flügel aus ihrem Rücken sprossen, nutzte ich nun doch die Gelegenheit, mich an ihr vorbei zu drängen und aus der Kapelle zu stürmen. Wenn sie sich dort drinnen in ihre riesige Drachenform verwandelte, würde ich schlimmstenfalls von den Trümmern erschlagen werden. Von einer lähmenden Angst erfüllt starrte ich Alcina an, die sich inzwischen vollständig verwandelt hatte. Der Anblick des riesigen, drachenartigen Wesens war noch genauso furchtbar, wie ich ihn in Erinnerung hatte. In dieses gewaltige Maul war ich damals gezogen worden, kurz davor, gefressen zu werden.
Inzwischen zweifelte ich daran, dass Alcina mir kein Haar krümmen würde, aber noch hatte ich die Hoffnung nicht aufgegeben. „Bitte, Alcina! Es tut mir leid! Ich werde fortan brav sein und dich so respektvoll wie möglich behandeln! Ich habe es doch verstanden“, flehte ich sie beinahe unterwürfig an. Wenn das Ganze nur ein Trick war, um mir einmal gehörig Angst einzujagen, hatte es zwar funktioniert, ging aber eindeutig zu weit! Doch mit jeder Sekunde, die verging, zweifelte ich an solch einer harmlosen Erklärung. Alcina war ernsthaft wütend. Sie spielte das nicht bloß vor. Sie war außer sich vor Wut und würde womöglich etwas tun, das sie später bereute. Ich spielte noch mit dem Gedanken, einfach wegzulaufen und zu hoffen, dass ich ihr entkommen konnte, aber da war es schon zu spät.
Alcina kam in ihrer Drachenform auf mich zu und ehe ich reagieren konnte, hatte sich die lange Drachenzunge um meine Beine geschlungen. Ich verlor augenblicklich das Gleichgewicht und kam mit dem Hinterkopf hart auf dem Steinboden auf. Der Schmerz explodierte in meinem Kopf und ich dachte gerade noch daran, den Dolch zu umklammern, den ich noch immer in der Hand hielt. Der Dolch! Vielleicht könnte er mein Leben retten, wenn es hart auf hart kam. Allerdings hatte mich der Aufprall beinahe das Bewusstsein gekostet und noch immer etwas betäubt, konnte ich nur zusehen, wie das riesige Maul plötzlich über mir erschien. Ängstlich schloss ich die Augen, als ich bereits spürte, wie die Zunge mich in das Drachenmaul zog.
Als ich sie kurz darauf öffnete, befand ich mich in derselben Situation wie vor einem Jahr. Dunkelheit umgab mich und ich spürte Schleimhäute und rasiermesserscharfe Zähne an meiner Haut, die mich aber immerhin nicht direkt zerfetzt hatten. Obwohl ich mich im Maul von Alcinas Drachengestalt befand, konnte ich gedämpft ihre Stimme hören, die schließlich von anderer Stelle, vom fast menschlichen Oberkörper auf dem Drachennacken, kam. Es handelte sich wieder um diese schrecklich verzerrte Stimme, die perfekt in die geisteskranke Situation passte.
„Fürchtest du dich jetzt vor mir? Das solltest du zumindest! Ich bin schließlich das Monster, das deine Eltern gefressen hat! Ist es nicht so?“ Da waren sie wieder! Diese furchtbaren Worte, die ich niemals hätte aussprechen dürfen! Ich wusste doch, dass sie Alcina wirklich verletzt hatten. Tat sie das alles deswegen? Irritiert stellte ich fest, dass ich den Dolch tatsächlich immer noch in der Hand hatte. Ich hatte mich tapfer an ihn geklammert wie an einen Rettungsanker. War er das im Grunde nicht auch? Die Luft im Drachenmaul wurde immer stickiger, während ich darüber nachdachte, den Dolch zu benutzen. Ich könnte ihn irgendwo in die Schleimhaut rammen oder mich vom Klammergriff der Zunge befreien. Vielleicht würde mich Alcina dann einfach ausspucken, aber was wäre, wenn nicht?
Würde eine Verletzung durch den Dolch nicht viel eher dazu führen, dass sie wieder die Kontrolle verlor? Träte das ein, wäre ich gänzlich verloren. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass sie wirklich vorhatte, mich zu fressen, hielt es für eine besonders radikale Form der Abschreckung. Deshalb versuchte ich erneut, zu ihr zu sprechen, wobei ich dieses Mal meine Fähigkeit benutzte, damit mich Alcina auch hörte. Bitte, du kannst jetzt wirklich damit aufhören! Ich hätte das nicht sagen dürfen! Egal, ob blutsverwandt oder nicht, du bist meine Mutter und wir wissen beide, dass du das nicht wirklich tun willst! Die Lektion ist angekommen und jetzt hör bitte auf! Ich weiß, dass du mich nicht wirklich fressen wirst!
Ich legte meine gesamte Verzweiflung in diese Worte, während ich mich selbst davon zu überzeugen versuchte. Ein schrilles, verstörendes Lachen erreichte meine Ohren. „Das hast du dir wohl so gedacht! Ich hätte dich erbärmlichen Menschen niemals in meine Familie aufnehmen sollen! Du bist nicht gut genug für meine Tochter und jetzt werde ich das tun, was ich schon vor einem Jahr, nein, schon bei deiner Ankunft im Schloss hätte tun sollen! Richte deinen Eltern einen Gruß aus, wenn du sie siehst!“ Ich wollte, nein, konnte nicht glauben, was ich da hörte, doch plötzlich ging alles ganz schnell. Mein Blick schnellte zum Dolch, doch da setzten sich bereits die Schleimhäute in Bewegung und ich fiel in den finsteren Schlund.
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Blood-red Kisses - Resident Evil Village FF
FanfictionIn einem kleinen rumänischen Dorf wird ein achtzehnjähriges Waisenmädchen als Opfergabe zum Schloss Dimitrescu geschickt. Sie weiß nicht, was dort mit ihr geschehen soll, geht aber vom Schlimmsten aus. Dennoch ahnt sie noch nicht einmal, was sie dor...