Kapitel 27

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-Alcina-
 
Mit einem tiefen Seufzen schloss Alcina die Tür hinter sich. Für eine Frau, die schon seit mehreren Jahrzehnten keinen Schlaf mehr benötigte, fühlte sie sich unglaublich müde. Die letzten Tage hatten sie erschöpft, wenngleich sie kaum etwas anderes getan hatte, als tatenlos herumzusitzen und den Zustand des Menschleins zu beobachten. Seit Alcina Belas Menschen ins Schloss gebracht hatte, war sie nicht mehr zu Bewusstsein gekommen. Sie befand sich seit nun beinahe drei Tagen in einem komaähnlichen Zustand und bisher war keine Besserung in Sicht.

Alcina war verzweifelt. Sie wusste nicht, was sie für den kleinen Menschen tun könnte, wusste nicht, ob es überhaupt etwas gab, das sie momentan tun könnte. Sie hatte bereits Mutter Miranda angerufen, um sich zumindest telefonisch einen Rat von ihr einzuholen, doch das war wenig hilfreich gewesen. Alles, was Mutter Miranda ihr hatte geben können, war die Aufforderung, weiterhin zu warten. Früher oder später würde sich schon zeigen, welchen Ausgang die Situation für Belas armen Menschen nehmen würde, die geglückte Verwandlung oder der Tod. Zumindest konnte man die dritte Option, die Verwandlung in einen Lycan, inzwischen ausschließen.

Mutter Miranda sagte, dass die Verwandlung in die wolfsähnlichen Biester nach höchstens einem Tag einsetzte, und da es beim kleinen Menschen noch keinerlei körperliche Anzeichen dafür gab, würde sie immerhin nicht dieses Schicksal erleiden müssen. Dennoch war das ein geringer Trost. Es war nach wie vor viel wahrscheinlicher, dass sie einfach starb, als dass die Verwandlung tatsächlich glückte, und dessen waren sie sich alle bewusst. Alcina musste tatsächlich zugeben, dass sie dieser Gedanke traurig stimmte. Noch vor knapp einem Jahr, als das Menschlein erstmals in ihr Schloss gestolpert war, hätte sie beim besten Willen nicht gedacht, dass sie ihren Tod einmal bedauern würde, doch so war es inzwischen.

Nachdem Bela darauf bestanden hatte, den Menschen, in den sie sich offensichtlich verliebt hatte, zu behalten, hatte sich Alcina letztendlich dem Willen ihrer Tochter fügen müssen. Nicht, dass sie nicht trotzdem versucht hätte, den damals noch lästigen Menschen loszuwerden, doch Alcina hatte einsehen müssen, dass sie die Anwesenheit des Menschleins ihrer Tochter zuliebe tolerieren musste. Das hatte sie die letzten Monate auch erfolgreich getan. Belas Mensch war klein und verstand sich darauf, sich schön im Hintergrund zu halten, sodass ihre Anwesenheit nicht einmal ansatzweise so störend war, wie Alcina zunächst angenommen hatte.

Sie hatte sich überraschend schnell an sie gewöhnt und musste schon zugeben, dass es etwas hatte, sich einen Menschen wie ein Haustier zu halten. Als ebenbürtig hatte sie den kleinen Menschen natürlich nie angesehen, doch das hieß noch lange nicht, dass Alcina sie nicht liebgewonnen hatte. Sie würde alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um das Menschlein zu retten, aber genau darin lag das Problem. Sie konnte nichts tun, um ihr zu helfen! Noch nie in ihrem Leben hatte sich Alcina Dimitrescu dermaßen hilflos, gar machtlos, gefühlt. Normalerweise bekam sie ihren Willen, egal, wie viel Mühe es alle anderen kostete. Hilfslosigkeit und Verlust waren gänzlich neue Gefühle für sie und sie gefielen ihr ganz und gar nicht.

Eigentlich hatte Alcina ein wenig Abstand von Belas Zimmer, jenem Raum, um den sich in den vergangenen Tagen das gesamte Leben in Schloss Dimitrescu gedreht hatte, nehmen wollen, doch wie auch schon in den Tagen davor wurde sie wie magisch davon angezogen. Noch bevor sie die Tür öffnete, hörte sie, dass wieder alle drei ihrer Töchter am baldigen Totenbett des kleinen Menschen verharrten. Sie machte sich keine großen Hoffnungen, dass es zu einem glücklicheren Ende kommen würde. Schon von draußen hörte sie ihre Stimmen. „Nur der Vollständigkeit halber lasst uns noch eine Sache versuchen“, hörte Alcina die aufgeregte Stimme ihrer jüngsten Tochter Daniela. „Kennt ihr das Märchen mit der schlafenden Prinzessin, auf der ein Fluch liegt oder so?“

„Meinst du Dornröschen?“, fragte Cassandra, klang aber bereits jetzt skeptisch. „Ja, genau! Die meine ich!“, rief Daniela eifrig. „Im Märchen kann man die Prinzessin nur wecken, indem ein Prinz sie küsst! Das haben wir zumindest noch nicht versucht.“ Alcina legte zweifelnd die Stirn in Falten, während sie auf der anderen Seite der Tür ein tiefes Seufzen vernahm, das nur von Bela stammen konnte. „Meinetwegen. Mach, was du willst. Vielleicht hilft es ja“, antwortete Bela, wobei sie alles andere als überzeugt klang. Bela klang ähnlich hoffnungslos und erschöpft, wie sich Alcina soeben fühlte. Allein der Tonfall ihrer ältesten Tochter zerriss ihr förmlich das Herz, sodass Alcina nun das Zimmer betrat.

Blood-red Kisses - Resident Evil Village FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt