Kapitel 1

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Mein Blick lag bereits auf der Tür, als sich diese plötzlich schwungvoll öffnete. Ich hatte nur darauf gewartet, wusste bereits, was das zu bedeuten hatte. Die Leiterin des Waisenhauses durchmaß den Raum mit großen Schritten, bevor sie genau vor mir anhielt. „Du weißt, was heute für ein Tag ist?“, fragte sie mich mit versteinerter Miene, aus der man keinerlei Emotionen herauslesen konnte. Und ob ich das wusste. Lange hatte ich auf diesen Tag gewartet und mich zugleich vor ihm gefürchtet. Schon seit mehreren Nächten schlief ich außerordentlich schlecht und zählte voller Furcht meine verbleibenden Tage.

Heute war mein achtzehnter Geburtstag, was nichts anderes bedeutete, als dass ich das Waisenhaus nun verlassen musste. Eigentlich hätte das eine gute Nachricht sein können, wenn es mir die Chance auf ein gutes, unabhängiges Leben ermöglichen würde, doch die Realität war um einiges ernüchternder. „Wohin werde ich gebracht?“, fragte ich die Leiterin des Waisenhauses reichlich unhöflich. Eigentlich gehörte es sich nicht, direkte Fragen an die vielbeschäftigte Frau zu stellen, die die meisten Waisenkinder selten häufiger als dieses eine Mal zu Gesicht bekamen, doch gleichzeitig war mir bewusst, dass ich sie wohl niemals wiedersehen würde.

„Mutter Miranda hat angeordnet, dass du dein weiteres Leben in Schloss Dimitrescu verbringst“, erklärte mein Gegenüber, wobei sie jedoch den Blickkontakt vermied. Ich nickte knapp, während ich bereits nach meinen Schuhen und meinem Mantel griff. Schloss Dimitrescu also… Im Grunde war es jedoch egal, wo ich geopfert wurde, denn das Ergebnis war wohl dasselbe. Mutter Miranda war wie eine Gottheit für unser kleines, armes Dorf. Sie wachte über uns und beschützte uns vor dem Bösen. Im Austausch für ihre Gnade mussten wir ihr jedoch Opfer darbieten. Menschenopfer. Die Erzieherinnen im Waisenhaus hatten immer behauptet, dass es eine Ehre sei, Mutter Miranda oder einem ihrer Grafen zu dienen, doch wenn es so toll war, wieso meldete sich dann keiner freiwillig dafür?

Ich hatte schon immer daran gezweifelt, dass es den geopferten Personen gutging. Ich glaubte nicht einmal daran, dass sie wirklich in die Dienste der Grafen traten. Nein, dafür waren bereits zu viele zu ihnen geschickt worden. Mit den düstersten Assoziationen folgte ich der Leiterin des Waisenhauses durch die winterliche Kälte. Obwohl sie eine wichtige Frau war, überbrachte sie jedes volljährige Waisenkind persönlich. Vermutlich tat sie das, da nur sie kaltherzig genug war, um uns in den sicheren Tod zu schicken. Eine andere Person könnte Mitleid bekommen und uns entkommen lassen. Das würde Mutter Miranda gewiss missfallen. Ich hatte nie eine Wahl gehabt. Im Grunde war mein Schicksal schon dann besiegelt gewesen, als ich meine Eltern verloren hatte und ins Waisenhaus gekommen war. Jedes Waisenkind, das die Volljährigkeit erreichte, wurde geopfert. Auf diese Weise erfüllten wir den größten Nutzen für unser Dorf.

Als wir das große Eingangstor des gar gewaltigen Schlosses erreichten, empfing uns bereits eine Dienerin der Schlossherrin. Wie jeder im Dorf hatte ich schon von Lady Dimitrescu, einer von Mutter Mirandas Grafen, und ihren drei Töchtern gehört, die im prunkvollen Schloss residierten, doch wirklich zu Gesicht bekommen hatte sie noch keiner der Dorfbewohner. Zumindest keiner, der davon noch berichten konnte… Trotz der winterlichen Kälte spürte ich, wie sich kleine Schweißperlen auf meiner Haut bildeten, während ich nervös auf der Stelle trat. Wie sie wohl aussahen die Herrinnen des Schlosses? Und noch viel wichtiger war die Frage, was mit Opfergaben wie mir geschah. Würde ich fortan als Dienerin im Schloss arbeiten oder sahen die Pläne der Bewohnerinnen etwas anderes für mich vor?

Meine Kehle fühlte sich viel zu kratzig und trocken an, um diese Fragen zu formulieren, doch dazu erhielt ich auch keine Gelegenheit. Die Leiterin des Waisenhauses verabschiedete sich, während mich die Dienerin aufforderte, ihr ins Innere des Schlosses zu folgen. Ich tat, wie mir geheißen, und erstarrte schon nach wenigen Schritten vor Ehrfurcht. Das Schloss war noch um einiges prunkvoller als ich es mir vorgestellt hatte! Wo man auch hinsah, überall fand man vergoldete Elemente. Stilvolle, vermutlich sündhaft teure Möbel, wundervolle Teppiche und Wandteppiche mit kunstvollen Mustern und zu allem Überfluss hing noch ein riesiger, goldener Kronleuchter von der hohen Decke. Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, sodass ich die Dienerin fast vergessen hatte, als diese mich plötzlich ansprach.

Blood-red Kisses - Resident Evil Village FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt