Der Rest des Sommers verging wie im Flug. Nachdem der furchtbare Vorfall größtenteils in Vergessenheit geraten war und sich mein Verhältnis zu Bela auch in körperlicher Hinsicht normalisiert hatte, traute ich mich sogar wieder nach draußen. Es wäre eine Verschwendung gewesen, die wenige Zeit, die ich außerhalb des Schlosses verbringen konnte, bevor die winterliche Kälte es verhindern würde, nicht zu nutzen. So wagte ich mich unter dem Schutz der Familie Dimitrescu tatsächlich nach draußen, wobei wir das Dorf nun selbstverständlich mieden. Ich hatte auch keinerlei Grund, wieder dorthin zu wollen.
Es war, als hätte die Vergewaltigung die letzten Verbindungen zu meiner einstigen Heimat gekappt. Ich fühlte mich dem Dorf und den Menschen darin nicht länger zugehörig und nun fühlte ich mich dort nicht einmal mehr sicher. Dass ich mich in der Gesellschaft von menschenessenden Vampiren wohler fühlte als in meinem Geburtsdorf, sprach Bände. Ich integrierte mich zunehmend in die Familie Dimitrescu und keiner schien sich daran zu stören. Mit Cassandra und Daniela unterhielt ich mich lebhaft, riss Witze, deren Opfer aber oft ich selbst wurde, und diskutierte leidenschaftlich über Bücher, wobei Danielas und meine Büchervorlieben entschieden auseinandergingen.
Die meisten Klassiker der internationalen Literatur, die ich sie nötigte zu lesen, fand sie langweilig, wohingegen mir ihre Liebesromane meistens zu schnulzig und nicht originell genug waren. Lady Dimitrescu lauschte solcherlei Diskussionen nur mit einem stummen Lächeln, mischte sich aber nie ein. Generell war sie doch noch etwas distanzierter mir gegenüber als ihre Töchter, aber es reichte mir, dass sie meine Anwesenheit überhaupt akzeptierte. Das Ende des Sommers kam schneller als gedacht und bald hielt der Herbst Einzug, wobei er seine Rolle als Vorbote des Winters wohl etwas zu ernst zu nehmen schien.
Die Temperaturen fielen schlagartig und obwohl wir erst Oktober hatten, haftete der Außenwelt bereits etwas Winterliches an. Es lag zwar noch kein Schnee, aber die Temperaturen im einstelligen Bereich ließen es nicht mehr zu, dass Bela, Daniela und Cassandra das Schloss verließen. Allerdings störte mich das nur geringfügig. Natürlich war die Abwechslung im Sommer nicht schlecht gewesen, doch auch die gemütlichen Herbst- und Wintertage, wenn wir uns vor einem prasselnden Kaminfeuer zusammensetzten, waren wirklich schön. Manchmal spazierte ich mit Bela durch das geräumige Schloss, da der Arzt schließlich gesagt hatte, dass mein geschädigtes Bein Bewegung brauchte.
Bela wäre es zwar lieber gewesen, wenn ich mich schonte, doch ich wusste, dass mein Bein steif werden würde, wenn ich es nicht regelmäßig benutzte. Schmerzen hatte ich schließlich keine, wenngleich das Treppensteigen jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung darstellte. Eines Tages lief ich wieder meine Runden, als dieser gemütliche Trott, dieses von Routine beherrschte Leben, plötzlich unterbrochen werden sollte. Heute spazierte ich alleine durch das Schloss, während Bela und ihre Schwestern im Kerker ihren „Spaß“ mit einem neuen Opfer hatten. Generell sah Bela es ungern, wenn ich ohne sie durch das Schloss ging, da sie fürchtete, ich könnte auf der Treppe stürzen.
So abwegig war dieser Gedanke auch nicht, doch ich hatte mich heute beim Lesen einfach nicht konzentrieren können und wollte mir einfach ein wenig die Beine vertreten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht wissen können, welch verheerende Konsequenzen dieser kleine Spaziergang nach sich ziehen sollte. Schon von weitem sah ich die auffällige Gestalt, die nicht in die sonst so vertraute Szenerie passte. Von Überraschung, aber auch einem Hauch Neugier erfüllt, trat ich näher zu jener Gestalt, die sich gerade mit einem der Dienstmädchen zu unterhalten schien. Unterbewusst war mir schon seit dem ersten Erblicken bewusst, wen ich dort sah, doch bisher war es meinem überforderten Geist noch nicht gelungen, die Feststellung zu formulieren.
Dennoch konnte es sich bei der blonden Frau mit der goldenen Vogelmaske nur um Mutter Miranda handeln. Einige Dorfbewohner besaßen Bilder von ihr oder ganze Schreine, vor denen sie hingebungsvoll beteten. Auch wenn ich Mutter Miranda nie mit solch einer Inbrunst angebetet hatte, erfüllte mich nun doch eine gewaltige Ehrfurcht, diese zur Göttin erhobene Gestalt hier stehen zu sehen. Vorsichtig näherte ich mich Mutter Miranda und dem Dienstmädchen und schnappte erste Gesprächsfetzen auf. „En…Entschuldigt, Mutter Miranda…Ich weiß nicht, wo sich die Lady gerade aufhält, aber ich werde sie unverzüglich suchen gehen und über Euren Besuch in Kenntnis setzen“, stammelte das sichtlich nervöse Dienstmädchen, das Mutter Mirandas Anwesenheit wohl genauso aufzuwühlen schien wie mich.
DU LIEST GERADE
Blood-red Kisses - Resident Evil Village FF
FanfictionIn einem kleinen rumänischen Dorf wird ein achtzehnjähriges Waisenmädchen als Opfergabe zum Schloss Dimitrescu geschickt. Sie weiß nicht, was dort mit ihr geschehen soll, geht aber vom Schlimmsten aus. Dennoch ahnt sie noch nicht einmal, was sie dor...