Das Kapitel in dem wir den Faden wiederfinden

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Gedankenverloren flocht ich Primos Mähne ein. Die anderen hatten vor einer ganzen Weile den Hängerplatz verlassen, ich hatte ihnen noch viel Erfolg gewünscht. Inzwischen war die Aufregung und das Bedürfnis jede einzelne Prüfung meiner Stallkollegen zu sehen, wenn wir zusammen auf Turnier fuhren, beinahe verschwunden. Ich sah sie im Training oftmals und gerade hatten Primo Victoria und ich eigene Sorgen, immerhin fand unsere erste Prüfung direkt im Anschluss statt.

Gerade fraß Primo entspannt, doch zuvor, als Cashmaker und das Berittpferd von Thomas weggeführt worden waren, war er aufgeregt und musste ihnen hinterherwiehern. Nun hingegen war wieder Ruhe in den Hengst eingekehrt. Esperanza war nie aufgeregt gewesen, wenn wir zusammen auf Turnieren gewesen sind. Sie kannte das wohl nicht - immer die Ruhe selbst. Die beiden Pferde waren so unterschiedlich. Aber an und für sich konnte ich mich über Primo Victoria nicht beschweren; für einen Hengst benahm er sich wirklich Recht anständig - vielleicht weil er Sorge hatte mich sonst zu verscheuchen. Sicher war ich mir nicht, woher sollte ich das auch wissen?

Die Zöpfe waren geflochten und nahmen nun Gestalt an. Diesmal waren mir wirklich gleichmäßige Segmente gelungen, ich wurde besser darin.
Plötzlich nannte jemand meinen Namen als ich gerade dabei war hochzustecken. Ich gab einen überraschten Laut von mir und auch Primo fuhr herum.

"Alles gut, ich wollte euch nicht erschrecken!" sagte Martin beschwichtigend. "Henna hat mir gesagt, wo ich euch finde."

"Martin, du verrückter Kerl! Hättest du nicht vorher was sagen können?" fragte ich vorwurfsvoll und stieg von der Putzkiste um ihn zu umarmen.

"Wenn ich gewusst hätte, wo ihr seid, und nicht völlig verirrt hier rumgelaufen wäre, dann ja. War Zufall, dass ich dich gefunden hab. Henna ist ein miserabler Wegweiser."

"Ja, das ist er."

"Hey." begrüßte Martin mich beinahe zärtlich und schloss mich kurz in die Arme.

Mir war gar nicht bewusst, dass ich mich so sehr nach dieser Art Nähe gesehnt hatte. In diesem Moment wurde es mir allerdings deutlich vor Augen geführt... Sein Geruch und die Berührung taten mir gut, ich fühlte mich auf einmal so sicher. Vielleicht genoss ich es auch eine Sekunde länger als Freunde das taten.

"Du riechst gut." stellte ich grinsend fest. "Hast du heute noch was vor?"

"Du, eigentlich such ich nach 'na Freundin, die hier heute noch zwei Prüfungen mitreitet. So'ne blonde mit einem gescheckten Hengst. Hast du nicht zufällig gesehen, oder?"

Ich grinste und ließ ihn los. "Keine Ahnung. Aber wenn du sie findest, dann richte ihr aus, dass sie auf mich warten soll. Manchmal verlieren wir uns."

Martin lächelte. "Ich warte dann mit ihr."

Ich nahm meine Arbeit wieder auf.

"Musst du noch viel vorbereiten?" erkundigte er sich. "Soll ich dir helfen?"

"Eigentlich nur noch die Zöpfe hochstecken, dann satteln und dann mich umziehen. Da könntest du ihn kurz halten. Ansonsten ist mir nicht zu helfen."

"Okay, okay." antwortete er und setzte sich auf Thomas' Campingstuhl.

Während Henning mit mir den Parcours abging hielt Martin meinen Hengst. Inzwischen waren sogar Joanne, Eckert und Felix dazugestoßen und warteten mit Martin. Anfänglich hatte Primo die ganzen Leute um sich herum kritisch beäugt, allerdings kannte er Martin ja schon und blieb artig bei ihm. Vielleicht war es mutig einem völlig unerfahrenen Menschen einen Hengst in die Hand zu drücken, aber ich wusste um Primos liebenswürdige Seele und dass er keinen Unsinn fabrizieren würde.
Der Parcours war eigentlich anständig gebaut, keine Ekeleien dabei. Gut um wieder in Fahrt zu kommen. Ich war zwölfte Starterin und mein Hengst hatte ich schon lange Schritt geritten um ihn zu akklimatisieren. Als wir wieder bei den anderen waren gab ich Henna mein Bein und er schob mich in den Sattel.

"Meinst du, du brauchst Hilfe, oder kann ich mir ein Bier holen?" erkundigte der Stallbursche sich.

Ich überlegte: "Wenn die Schlange nicht zu lang ist, dann kannst du schon. Ansonsten wäre ich dir wirklich verbunden wenn du mal noch ein Auge drauf hast und mir die Stangen hochlegst."

"Ich könnte dir ein Bier holen," schlug Martin vor, "dann musst du sie nicht alleine lassen."

"Ich bin durchaus in der Lage allein zu sein!" protestierte ich. Beide sahen mich skeptisch an also gab ich klein bei: "Aber ich mag eine mentale Stütze."

Henning und Martin standen beide auf dem Abreiteplatz, der eine hielt dem anderen das Bier, wenn dieser die Stangen hochlegen musste. Es war beruhigend und unterhaltsam gleichermaßen und ich war froh, dass meine Freunde hier waren.
Als ich dann einritt und grüßte war gar keine Spur von Nervosität. Die brachte mich ja sowieso nicht weiter. Beim Ertönen der Glocke galoppierten wir an. Der erste Sprung war ein Steilsprung für den ich mir eine gute Linie zurechtgelegt hatte und die ritt ich jetzt genau so ab. Meine Zügelverbindung war konstant und Primos Ohren lauschten konzentriert. Er verließ sich ganz auf meinen Schenkeldruck.
Wie konnte jemand so einem intelligenten Pferd etwas so unschönes antun? Er wollte doch... Primo Victoria war so ehrgeizig. Wie konnte jemand das übersehen, dass dieses Pferd den ganzen Weg bis an die Spitze gehen würde, wenn man ihm nur genug Zeit ließ? Menschen konnten so widerliche Kreaturen sein...
Wir waren inzwischen auf dem Weg zur Kombination. Von hier oben kamen mir die Sprünge gar nicht so massiv vor. Primo ließ sie so mühelos und klein erscheinen. Ich liebte seine aufwändige, raumgreifende Galoppade, wenn wir im Parcours waren. An seinen Takt hatte ich mich bereitwillig und allzu schnell gewöhnt. Ich konnte mir gar nicht mehr vorstellen auf einem kleineren Pferd mit weniger Galoppade zu sitzen. Hier war ich perfekt, in Primo seinem Sattel fühlte ich mich Zuhause. Wir flogen nur so durch die Reihe und ich hatte noch so viel Zeit zum Nachdenken - einer der Vorteile, wenn man nicht aufgeregt war... Nun steuerte ich ihn um eine Linkskurve direkt auf eine Trippelbarre. Keine Ahnung, was ich genau an dieser Sorte Sprung toll fand, aber ich mochte sie. Primo erlaubte sich dieses Mal, drei Galoppsprünge vorher seine Abmessung zu kalkulieren und die passte. Wenn ich nach ganz oben wollte musste ich das noch besser hinkriegen, meinen Pferden die Distanzen passend hinzupacken, aber bei Primo war es als hätte er ein integriertes Radar, welches selbst die Entfernung ausmisst und den Fahrassistenten einschaltete. Den vollen Umfang dieser Brillianz verstand man nur, wenn man selbst einmal solch ein Pferd ritt. Es war der Wahnsinn.

Der letzte Sprung war eine graue Mauer und unser erstes L-Springen mit ebend jener beendet. Ich parierte zum Trab durch.
"Das war ein Fehlerfreier Ritt in der erlaubten Zeit. Die Wertnote beträgt 8,2 - ohne Abzüge, verbleibt 8,2."

"Bekloppt..." murmelte ich glückselig und schüttelte den Kopf. "Wie haben wir das denn gemacht?"

Als Primo und ich aus dem Parcours kamen stand bereits Henning mit meinen Freunden bereit.
"Damit bist du bis jetzt erstmal auf Platz 2, gut gemacht."

"Aber es kommen noch einige. Ich glaube, ich sattel erstmal ab."

"Mach das, aber in der Platzierung bist du auf jeden Fall. 8,2 - da müssen die anderen erstmal hinreiten."

Primo Victoria - Von Hengsten und MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt