Primo Victoria - Von Hengsten und Mädchen

Das Kapitel über den Sattelclub

Charlotte sah zu als ich Primo nach unserem ersten, längeren Gespräch ritt. Ich wollte eigentlich nur ein leichtes Training und ein paar Gymnastiksprünge machen, aber Primo Victoria sah die Sache anders. Ich war das inzwischen von ihm gewohnt, dass er ehrgeizig war und von Zeit zu Zeit andere Pläne hatte als ich. Meistens merkte man das schon, wenn er aus der Box kam. Wenn er sich vorher noch ein Mal strecken musste, dann steckte in der Regel Muskelkater dahinter; das oder er hatte nicht so gut geschlafen. Dann waren entspannte Ausritte oder leichte Arbeit voll sein Ding. Heute allerdings konnte ich die Boxentür gar nicht schnell genug aufschieben, da der Hengst sich schon selbst mit der Nase daran zu schaffen machte. Ein ungeduldiger Heiliger.

Den letzten Oxer in der Gymnastikreihe sprang er deshalb viel zu weit, obwohl mit Sicherheit noch ein Galoppsprung zwischen gepasst hätte, und setzte mir dann einen Bocksprung unter. Einen einzigen.

Als Henna mit einem Berittpferd zum Springplatz kam parierte ich durch. Er winkte Charlie fröhlich und rief dann: "Ich glaube, du musst für Camilla mal höher bauen."

Charlotte lachte und kam herüber um die Stangen zu verändern.

"Na, Kurze, wie ist's?" fragte der ältere mich.

"Joa, ganz gut. Und bei dir?"

"Muss. Und hab ich dir zu viel versprochen?" fragte er und nickte in Charlies Richtung.

Ich schüttelte den Kopf. "Ich denke, wir kommen gut klar."

"Freut." grinste er. "Sie ist cool drauf."

Ich nickte. Dann galoppierte ich Primo wieder an um nochmal einige Sprünge zu nehmen. Zwar waren sie nicht so hoch wie bei Thomas im Training, aber hoch genug. Also für meinen Geschmack reichte das zumindest aktuell, weil Thomas halt frei hatte und ich das wirklich lieber nur mit meinem Ausbilder zusammen machte.

Als ich nach der Einheit von Primo Victoria abstieg und die Bügel hochschob kam Charlotte dazu.

"Er hat sich großartig entwickelt." sagte sie und schob den andern Steigbügel hoch. "Ich bin gespannt, welche Pferde Onkel dieses Jahr für uns hat."

"Wir waren in letzter Zeit viel unterwegs um Pferde abzuholen. Hast du viele Dressurreiter dabei?"

"Ja, nur."

"Oh, okay." murmelte ich verlegen.

"Für die Mädchen ist das hier wie Urlaub. Klar, sie suchen hier auch Pferde, aber in erster Linie sind sie daran interessiert hier Leute kennenzulernen und feiern zu gehen." erklärte Charlotte mir. "Ihre Eltern haben oft viel Geld. Ich bin quasi in erster Linie ihr Minder... Wie sagt man in Deutsch? Aufpasser oder sowas?"

"Ja, genau."

"Du wirst sie ja kennenlernen. Zwei sind total lieb, vielleicht etwas zu brav - die sind auch wirklich nur wegen den Pferden hier. Und die anderen sind ebend etwas anders gelagert. Da hat Party den höheren Stellenwert."

"Oh, okay."

Ich verstand nun noch weniger, was meine Aufgabe war, die Mr. Chapman mir angedacht hatte... Hoffentlich sollte ich nicht der Trottel für die Mädels sein, die von Beruf Tochter waren. Das wäre furchtbar und schon beim Gedanken daran wollt ich spucken.

Charlotte und ich unterhielten uns am Paddock, während Primo sich wälzte, als Mr. Chapman dazu kam. Offensichtlich hatte er schon einen Plan ausgeheckt.

"Also," unterbrach er unser Gespräch und sah auf sein Klemmbrett. "Ich hab mir hier eine kleine Liste gemacht. Du hast mir ja in etwa geschildert wer wie reitet und wo die Schwächen liegen. Ich würde sagen, wir testen das dann heute mal in den Kombinationen. Camilla und Henning können euch die Pferde zeigen."

Charlotte und ich sah zusammen auf die Liste. Ganz oben stand Yasmina und die Pferde waren Darragh und Dunkerley.

"Wer ist Yasmina?" fragte ich neugierig.

"Meine beste Reiterin." erklärte Charlie stolz. "Lass uns in den Stall gehen."

Ich nickte zustimmend und folgte ihr. Es waren ausnahmslos junge Frauen, die zusammen mit Charlotte angereist waren. Meine Augen suchten nach Henning, der eigentlich in der Nähe sein sollte, und ich war froh als ich ihn an eine Box gelehnt sah. Charlie begann damit jede einzelne Reiterin vorzurufen - das half mir zumindest die Namen zuzuordnen. Yasmina war auf eine eigenartige Weise sehr schön. Ihre leicht konvexe Nase und ihre mandelförmigen, braunen Augen verliehen ihrem Gesicht einen ganz besonderen Charme. Ihre Haare waren lang und dunkelblond und sie machte einen sehr ruhigen Eindruck, wahrscheinlich war sie eine von den beiden, wie Charlie sagte, die nur wegen der Pferde hier waren. Ich hatte ein gutes Gefühl als ich sie zu der Box von Darragh führte.

Die nächste war Ashley, Charlie nannte die Ash. Sie erinnerte mich etwas an die Protagonistin aus einer meiner Lieblingsserien, da sie genauso dunkelbraune, lockige Haare und ein ovales Gesicht mit ebenfalls dunkelbraunen Augen besaß. Im Gegensatz zu Yasmina schien sie etwas aufgeweckter zu sein. Keine Ahnung ob die Kombination mit Vaughn so eine gute war, aber wir würden es erfahren. Henna führte sie zur Box.

Ich war doch ein wenig überfordert mit den ganzen Namen, aber heute war der erste Tag - blieb noch genug Zeit um alle zu lernen. Yasmina und Fiona putzten nebeneinander und unterhielten sich leise über die Pferde. Fiona sprach eindeutig mehr, aber die beiden schienen sehr gut miteinander befreundet zu sein. Fiona war die zweite von den "Braven" und ritt heute Golden Cappuccino, einen Palomino-Wallach.

Es war erstaunlich, dass wir überhaupt genug Dressursättel besaßen. Die einzige, die einen Springsattel auflegte war Charlotte. Sie hatte sich ein Pferd rausgesucht, welches ich nicht wirklich kannte. Der dunkelbraune Wallach hieß Darmowe, war Halbblüter, aber mehr wusste ich auch nicht. Ein ehr unscheinbares Pferd oder zumindest keiner für den erste Blick.

Mit der ganzen Truppe im Schlepptau gingen Henning und ich zum großen Turnierplatz, damit die Mädchen sich erst einmal mit den Pferden vertraut machen konnten. Auf dem Rasenplatz bildeten sich direkt kleine Grüppchen. Ich versuchte mich auf die drei zu konzentrieren, deren Namen ich mir zumindest gemerkt hatte und die ich auch mit Reitkappe erkennen konnte. Ähnlich wie Jörg waren auch die Reiterinnen fein rausgeputzt und ihr eigenes Equipment war womöglich noch teurer. Schwer zu sagen. Mein Blick wanderte immer wieder zu Yasmina. Ich war erstaunt wie zufrieden Darragh mit ihr und ihrer Hand war, obwohl er sonst so anspruchsvoll war. Das musste Charlotte gemeint haben.