Das Kapitel über Primo Victoria

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Ich war auf eine einfache Art glücklich. Gerade in diesem Moment putzte ich Primo Victoria. Sorgfältig fuhr ich mit der Lammfellbürste über seine Kruppe, betrachtete die ausgeprägten Muskeln.
Bei ihm saß jeder Muskelstrang an der richtigen Stelle und der Hengst strotzte nur so vor Kraft.
Zwar war unsere Geschichte keine dramatische, aber sie war auch nicht immer leicht - eine Sache in der sie sich womöglich von keiner anderen Pferd-Reiter-Beziehung unterschied. Jede Beziehung besaß Höhen und Tiefen. Obwohl das alles hier am Anfang nicht die Bilderbuch-Liebe war konnten wir auf ein kleines Abenteuer zurückblicken, was uns beide irgendwie geformt hatte. Bis jetzt konnte ich nur ahnen wie unsere Reise weitergehen würde.
Was ich allerdings nicht wusste war wie seine Reise vorher gewesen sein musste. Mich beschlich das Gefühl, dass die kleinen Narben an seiner Brust und den Beinen mir etwas verschwiegen...

Manchmal, wenn ich dem Mädchen in die Augen sah, konnte ich vergessen wie abscheulich Menschen doch sein konnten. Hass war etwas, was wir Pferde von Geburt an eigentlich nicht kannten - das lernte wir erst von oder durch die Menschen. In leisen Momenten fühlte ich mich immer noch in diese Welt zurückversetzt, diese böse Welt.
Aber das Mädchen... Sie ließ leise Momente nicht zu. Ich spüre dass sie so viele Fragen an die Welt hat und dass sie hin und wieder ein wenig enttäuscht von ihr war, aber von Grund auf war das Mädchen positiv. An manchen Tagen konnte ich nicht über meinen eigenen Schatten springen und an manchen habe ich es ihr ungewollt schwer gemacht... Trotzdem war sie geblieben, dieses Mädchen. Sie sorgte für mich und war mir nie lange böse. Wo war sie bloß mein ganzes Leben gewesen?

Ich drehte mich zu ihr um und kraulte ihren Rücken während sie meine Hufe auskratzte. Sicher verstand sie wie dankbar ich ihr war, schließlich ist sie ein schlaues Mädchen.
Sie lachte und tätschelte blindlings nach meiner Nase. Ja, sie verstand das wohl. Zumindest auf irgendeine Art.

Wenn doch nur Worte meine Sprache wären, ich hätte dem Mädchen erzählt, was mir zugestoßen war - nur damit sie wusste, weshalb wir am Anfang so gestolpert sind.
Ich wollte, dass sie wusste, dass es eine Zeit gab, wo ich weggesperrt war, wo ich alleine war, wo ich vor Angst immer wieder in meine Brust gebissen habe, weil ich Menschen nicht beißen durfte, weil ich gewollt habe, dass das alles endet. Ich war doch noch so jung... Sie musste wissen wie ungern ich eingesperrt war. Es ängstigte mich... Stundenlang allein sein, ohne meine Herde, ohne grüne Wiesen oder sandige Paddocks. Nur funktionieren zu müssen.
Sie hatten mir Stromdraht in die Box gezogen, damit ich aufhöre zu steigen... Scheußliche Menschen! Selbst nachts hat der Apparat getickt.

Plötzlich blickte sie mich an aus ihren ehrlichen Augen. Diese Augen konnten niemals lügen, nein, das konnten sie nicht.
"Alles okay, mein Junge?" fragte sie sanft. "Du siehst irgendwie weggetreten aus."

Nein... Ich meine, ja!
Ich schnaubte.
Mit ihr war alles irgendwie sehr okay, schließlich war ich ihr großer, ihr Junge, ihr Esel, ihr Buddy. Ich war jemand, nicht etwas! Wir waren Partner.
Und sie war mein Mädchen.

Nun sah Primo mich an - alles war wie immer. Das merkwürdige Gefühl von ebend war auch wieder verschwunden. Der Hengst atmete langsam aus. Bevor ich zur Sattelkammer ging strich ich ihm nochmal über seinen hübschen Kopf. Er war schon ein einzigartiges Pferd. Ein Charakterpferd, ohne Frage. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass ich jemals einen Hengst reiten würde. Überhaupt hätte ich niemals damit gerechnet ein anderes Pferd zu reiten als Esperanza - verdammt, ich hatte sie kaufen wollen. Aber das war jetzt alles dahin und selbst wenn, irgendwie wollte ich sie gar nicht mehr... Ich wollte bei Primo bleiben. Er war mein Freund, vielleicht auch mein Gefährte, und irgendwie war ein Teil von mir immer bei ihm. Vielleicht konnte mein Kopf aber auch nichts anderes als Pferde. Eventuell noch Familie.
Mit dem Springsattel kam ich zurück und legte ihm die neue Trainingsschabracke auf. Die andere würde ich waschen müssen.

"Also ich finde ja," sagte ich fröhlich, "Brombeere steht dir ausgezeichnet! Pascal hat dir das übrigens gesponsert."

Er spitzte die Ohren bei meinen Worten. Primo Victoria war wirklich ein Charakterpferd.
Als ich ihm Sattel, Martingal, Gamaschen und Trense angelegt hatte stieg ich auf. Heute ritten wir das erste Mal alleine aus und ich wollte, dass er einfach mal galoppieren konnte - ich wusste, dass er das wollte!

Primo Victoria - Von Hengsten und MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt