Das Kapitel über unsere erste Gelände-Prüfung

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"Das ist das letzte Turnier, zu dem ich dich begleite." meinte Pascal etwas schwermütig.

Es war Samstag, am Abend zuvor waren wir lange am Stall gewesen um Primo einzuflechten und meine Sachen zusammen zu packen. Jetzt standen wir am Richterturm und verfolgten die Gelände-Prüfung. Es war meine einzige Prüfung an diesem Tag und sie fand auf dem Springplatz statt.

"Schade..." murmelte ich. "Wenn ich dein Auto kapern würde, könntest du nicht los, oder?"

"Ich fahre mit dem Zug. Golf hat gerade keinen TÜV, muss erst gemacht werden."

"Ich dachte, dass ich einen guten Plan ausgeheckt hab." entgegnete ich abgelenkt, wenn ich meinen Bruder jetzt ansehen würde müsste ich womöglich losheulen.

"Leider nicht."

"Na gut."

Kurz darauf galt meine Aufmerksamkeit wieder dem Parcour, wir waren ihn schon abgegangen - er war ganz nett. Mal sehen was Primo letztendlich dazu sagte, es gab einige sehr bunte Sprünge und Sprünge, die er nie zuvor gesehen hat. Ich erwartete einfach nicht, dass es perfekt lief. Zudem war das Starterfeld mit 58 Teilnehmern doch unerwartet groß für ein A-Gelände, aber was will man machen? Wir waren ganz hinten dran. Das bedeutete warten, warten und mehr warten. Allerdings hieß dass auch, dass ich mir überbackene Nudeln Carbonara gönnen konnte, was mir wiederum ganz gut gefiel.

Etwa eine dreiviertel Stunde vorher holten wir Primo vom Anhänger, ich putzte ihn nochmal über, sattelte und krabbelte dann rauf.
So blieb noch ein wenig Zeit um ihn aufzuwärmen und einige kleinere Sprünge zu machen.
Leider war er heute nicht wie die letzten Male, sondern viel abgelenkter. Vielleicht lag das an den ganzen Stuten. Es war wirklich schwierig seine Aufmerksamkeit für mich zu beanspruchen auf dem vollen Abreiteplatz.
Hier und da waren schon Teilnehmer für die nächste Prüfung, die natürlich abritten als gäbe es kein Morgen mehr. Mehr als einmal wäre beinahe einer in uns reingekracht!
Inzwischen war auch Henna wieder bei meinem Bruder aufgetaucht.
Ich ritt auf die beiden zu.
"Ich bin schon bedient bevor das hier überhaupt losgeht."

Henna kontrollierte nochmal Primos Bauchgurt.
"So darfst du da gar nicht rangehen. Wenn es halt mal scheiße läuft, na und? Da musst du jetzt drüber stehen. Sei euch nicht selbst im Weg. Wirst sehen, der macht das schon."

Da war ich mir nicht ganz so sicher. Das alles wurde auch nicht besser als ich rein ritt.
Heute schienen den Hengst die Sprünge besonders anzuekeln... Und es wurde auch nicht besser als das Glöckchen läutete und wir starten durften. Ganz im Gegenteil. Primo Victoria wurde hart in der Hand, ich fand kaum einen guten Draht zu ihm und konnte unsere Geschwindigkeit nur schwer kontrollieren.
Die Folge war, dass er sich am sechsten Sprung heftig stieß. Es knallte so laut als wäre eine ganzer Baum umgefallen und zeitgleich ging ein Raunen durch die Menge.
Wenn man allerdings dachte, dass Primo deshalb aufhörte zu laufen, dann war schlichtweg eine Fehlannahme. Dieses Pferd ließ sich hier und heute nicht bremsen. Aber er lief nicht mehr ganz taktrein... Ich hätte am liebsten geflucht und geschrien, aber es würde nichts ändern.
Mit einem Handzeichen gab ich den Ritt auf sobald ich ihn zum Schritt bekam.

Im Schritt wurde dann um so deutlicher, was ich ohnehin befürchtet hatte: Primo ging lahm! Und das nicht zu wenig.
Nachdem wir draußen waren stieg ich ab und sah mir das Desaster an.

"Das ist 'ne Tragödie." seufzte ich deprimiert.

Sein Vorderbein fing bereits an dick zu werden und es war ganz knapp über der Gamasche eine kleine, offene Wunde zu sehen aus der nun etwas Blut lief. Ich löste sie, während Henna und mein Bruder zu mir kamen, und klettete sie am Steigbügel fest. Was für ein Scheißtag.

"Shit!" Henning zog die Luft scharf ein.

"Hmmm... Ich bringe ihn zum Hänger und sattel ab. Den brauche ich die nächsten Tage nicht mehr reiten."

Die ganze Situation hätte mich nicht noch mehr deprimieren können, als Henna und Pascal mich nun auch noch mitleidend ansahen wollte ich aber am liebsten flennen - wie ein kleines Mädchen.
Ich führte mein verletztes Pferd weg um allein zu sein.

Als wir außer Hörweite waren murmelte ich: "Das hat doch wirklich nicht Not getan, Primo. Sieh wohin uns das gebracht hat!"

Was für ein Bockmist!
Als ich die Trense gegen sein Halfter tauschte sah er aus wie ein getretener Hund, so hatte ich ihn noch nie gesehen. Ihm ging es einfach nicht gut.
Der Sattel konnte nun auch wieder runter und die restlichen Gamaschen ab. Ich brauchte mir keine Illusionen machen, dass ich ihn dieses Wochenende nochmal reiten würde, also konnten die Zöpfe auch wieder raus. Es war nicht einmal nötig ihn anzubinden, da er sich ohnehin nicht bewegen wollte. Sein Bein war inzwischen auch fast doppelt so dick.
"Ach, Esel." sagte ich immer wieder leise.

Manchmal lief es Zuhause so gut und auf Turnier passierte dann so etwas. Darauf konnte man sich einfach nicht vorbereiten. Auf Turniere musste man gehen um die Pferde daran zu gewöhnen. Zuhause konnten die Sachen noch so gut sitzen, wenn man der Aufregung auf Turnier nicht gewachsen war, würde man trotz dem tollen Training nur mittelmäßige Leistungen abliefern. So wurde man immer wieder geerdet... Wobei diese Leistung von uns heute nichtmal in der Nähe von mittelmäßig war. Sie war katastrophal!

An einem Schuppen fand ich einen Wasserschlauch nach langen Suchen und holte dann Primo Victoria um ihm das Bein zu kühlen.

Das war übrigens auch der Tipp vom Tierarzt: kühlen, kühlen, kühlen.

Am besten war nach dem Kühlen übrigens Quark. Quark war großartig. Als Primo am späten Nachmittag wieder auf dem Gestüt angekommen war, fuhren Pascal und ich nochmal hin zum Kühlen und um ihn danach das Bein mit Quark einzuschmieren.
Ich kam nicht drum hin Mr. Chapman davon zu erzählen. Seine Reaktion war wie immer nett, aber er war natürlich nicht sehr erbaut. Wenigstens machte er mir keine Vorwürfe, tat Henna auch nicht. Ich fühlte mich so schon schlecht genug. Schöne Scheiße.

Das Wochenende stand einfach unter keinem guten Stern...

Primo Victoria - Von Hengsten und MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt