Das Kapitel in dem ich jemanden kennenlerne

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Pascal war weg und der Tierarzt meinte, dass Primo ab Mittwoch schon Spaziergänge machen konnte und ich ihn Ende der Woche etwas Schritt reiten durfte, aber mit dem Training noch wenigstens bis Mitte nächster Woche warten sollte. Heute war Dienstag und ich war wieder am Stall.

Primo Victorias Bein kühlen war beinahe etwas meditatives. Vielleicht sah es für außenstehende aber auch total gruselig aus wie ich da stand, mit dem Kopf gegen die Schulter des Hengstes gekippt und sich keiner von uns beiden rührte während das Wasser lief. Wir waren ein sehr großer Trauerkloß.

Plötzlich kam Henna um die Ecke. Er hatte natürlich beste Laune! Henna gab es einfach nicht mit schlechter Laune. Manchmal schockierte es mich sogar, wenn er bloß ernst war.

"Wow, bald hast du einen Swimmingpool aus dem Hof gemacht." meinte er theatralisch. "Gib mir Bescheid, wenn's soweit ist, dann hol ich die Badehose raus."

"Erspar mir." entgegnete ich bloß.

"Hey, komm schon! Ist scheiße gelaufen, aber was soll's? Leben geht weiter."

Nun drehte ich mich doch zu dem Älteren rum. "Desaster..."

"Was hälst du von einem Deal?"

"Was für einen?"

"Ich geb dir meine Kühlbandagen für ihn und du kommst mit zu den Zweijährigen, damit du mal den Kopf frei bekommst." schlug der Stallbursche vor.

"Schaden kann's nicht."

Also verschwand Henning nochmal um kurz darauf mit einer schwarzen Ice-Bandage wieder zu kommen. Das Ding war wirklich kalt und besaß seltsamerweise Batterien.

"Vibriert." erklärte er Schulterzuckend als er meinen skeptischen Blick bemerkte. "Soll bei der Blutzirkulation helfen."

Als er das Ding einschaltete erschrak Primo ein wenig und blähte die Nüstern, ich konnte es ihm nicht übel nehmen. Zumindest sah es gut verpackt aus. Wenn es wirklich half, dann sollte ich die Teile vielleicht auf meine Einkaufsliste schreiben - möglicherweise waren sie ja eine Investition wert.

Henna kam mit einem Suzuki Jimny neueren Baujahres vorgefahren als ich aus dem Stall kam.

"Ist das der Firmenwagen?" fragte ich überrascht.

"Jup," entgegnete er fröhlich, "zum Koppeln kontrollieren. Ich muss dir jemanden vorstellen - du wirst ihn mögen."

Nun war ich endgültig misstrauisch. "Okay..."

Unsere Fahrt war holprig, was nicht an Hennas Fahrstil lag, sondern am bergigen Gelände. Wir fuhren am Waldrand entlang, wo der Boden von den riesigen Kiefern gut durchwurzelt war... Und ihre Wurzeln waren teilweise so breit wie meine Unterarme.
Die Wiese lag an einem Hang und war stellenweise sehr uneben. Auf Hennings Pfeifen hin kam eine kleine Gruppe von neun Pferden gemächlich angetrottet.

"Darf ich vorstellen: die Youngster." sagte er und öffnete den Stromdraht für uns.

Auf einmal fand ich mich umgeben von Junghengsten und Wallachen wieder. Einige schnupperten an mir, andere standen nur daneben. Das hellte meine Laune doch ein wenig auf.
"Gehören die alle Mr. Chapman?"

"Nein, nein. Die wollte ich dir auch nicht alle zeigen. Siehst du den Schimmel zu deiner linken?"

"Was ist mit dem? Also, mal abgesehen davon, dass er ein liebreizendes Wesen ist und auch nicht ganz hässlich." fragte ich während ich einen schwarzbraunen ein wenig von mir schob.

"Das ist einer von Primo Victoria. Er gehört einem älteren Herren, der ihn verkaufen möchte."

Nun musterte ich ihn ernsthafter. Dieser junge Wallach war ein Sohn von meinem Esel? Viel hatte er nicht von Primo... Bis auf die Augen... Diese Augen kannte ich. Er war wirklich niedlich mit seiner struppigen Mähne und dem kindlichen Aussehen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er mal ein tolles Reitpferd abgeben würde. Schöner, kompakter Rahmen, nicht zu riesig, hübsches Gesicht. Ja, vielleicht war ich schon jetzt ein bisschen verliebt.
"Weißt du, was er kosten soll?"

"Du, keine Ahnung."

"Schade." murmelte ich während ich das Pferd kraulte.
Er machte den Hals lang wie eine Giraffe und genoss die Fellpflege. Okay, seine verspielte Art hatte er definitiv von Primo Victoria.
"Gibt's noch was zu wissen?" erkundigte ich mich.

"Außer dass er gern dein Zukunftspferd wär?" meinte Henning amüsiert, fügte dann ernster hinzu: "Seine Mutter ist charakterlich top und so auch zu gebrauchen. Sein Trab ist allerdings nur normal."

"Trab ist nur halb so wichtig. Schritt und Galopp müssen sie haben. Das solltest du doch wissen."

Das hatte mehrere Gründe, zum einen war Trab die einzige Gangart, die man durch korrektes Training fördern und etwas formen konnten, zum anderen wurden in der Dressur die höheren Klassen überwiegend im Galopp geritten, außerdem war der Schimmel wahrscheinlich eh als Springpferd gezüchtet und da war von Natur aus Galopp das wichtigste. So war das nun mal. Aber das allerwichtigste war bei jedem Pferd der Charakter, eine Eigenschaft auf die in der Zucht kaum noch wert gelegt wurde. Jeder wollte immer die Pferd für das Olympia Stadion züchten, aber niemand beachtete dabei, dass diese nur von Profis zu reiten waren, es aber mehr Freizeitreiter und Amateurreiter gab... Und diese waren mit Pferden zufrieden, die nicht jeden Spatzen am Horizont sahen und entsprechend reagierten. Wir bräuchten wirklich mehr ausgeglichene Pferde.
Mit steigendem Temperament sank bei den meisten Pferden leider auch die Versammlungsbereitschaft und die Fähigkeit schwere Lektionen zu verstehen und auch "auszuhalten" im Kopf.
Heutzutage wurden viele Fohlen ohne Bedienungsanleitung geboren, was dazu führte dass in vielen Ställen und auf vielen Weiden Mustangs standen, die zwar als deutsches Sportpferd, Hannoveraner, Holsteiner oder sonst wie eingetragen waren, sich aber nicht anfassen ließen.
Der Schimmel hingegen würde sicher keine Probleme machen. Er war gerade wach genug um keine Schlaftablette zu sein und neugierig genug um Dinge schnell zu lernen. Aber gerade war er hinten noch sehr überbaut und etwas pummelig, was ihm das Aussehen eines Bärchens verpasste.

  
Am Abend hing ich meinen Gedanken über Primo und seinen Sohn nach. War jetzt schon die Zeit für ein eigenes Pferd?

Primo Victoria - Von Hengsten und MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt