Das Kapitel mit der großen Zusage

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"Also... Ich hab gründlich über Ihr Angebot nachgedacht." sagte ich als ich am Montag bei Mr. Chapman auf der Terrasse saß. "Und ich möchte es annehmen."

Primo Victoria's Besitzer lächelte zufrieden.
"Das ist sehr erfreulich. Ideal für uns und das Gestüt. Wie hast du dir deine Ausbildung vorgestellt?"

Wie hatte ich mir meine Ausbildung vorgestellt?
"Ich weiß nicht. Ich will alles lernen, was man über die Zucht wissen sollte... Aber ich möchte auch weiterhin reiten." entgegnete ich nachdenklich, während ich Daumen und Zeigefinger am Kinn platzierte.

"Ich denke, du wirst hier überall mal eingesetzt. Mit den Jungpferden, bei den Hengsten, im Service. Wir sind nicht so riesig, dass wir einen Lehrling nur in einem Bereich auslasten können, und ich möchte dich gerne weiter fördern. Auch reiterlich. Doch bis zu deinem Cup keine Experimente! Nicht, dass wir dein Ziel gefährden - immerhin ist das eine große Chance für dich. Und für uns natürlich auch."

"Damit kann ich sehr gut leben."

"Gut. Bis dahin reitest du also nur den Schecken. Doch danach würde ich dir gern noch einen weiteren Hengst anvertrauen. Wir haben gesehen, was passiert, wenn ein Pferd ausfällt. Das wirft einen schnell mal um einiges zurück."

Einen neuen, zweiten Hengst? Das klang so aufregend. Ich war Feuer und Flamme für diesen Plan.

"Ich würde dich gerne weiterhin in der Vielseitigkeit sehen, aber wenn du sagst, dass du nur noch Gelände oder Springen reiten möchtest, dann kann ich damit leben."

Ich nickte. "'Gelände und Springen' klingt gut."

Es lag nicht daran, dass ich mir Dressurprüfungen nicht zutraute, aber wir hatten ja gesehen, was passiert war. Außerdem wollte ich schnell sein und über Sprünge fliegen; das ging in der Dressur nicht. Ich mochte zwar das Training und es war essenziell in der Ausbildung von Pferd und Reiter, aber ich wusste sehr gut, dass meine Stärke und die meines Pferdes ehr in den anderen Disziplinen lag. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob Primo in schwereren XC-Prüfungen bestehen konnte. Immerhin hatte er nicht so viel Vollblutanteil wie die meisten anderen Vielseitigkeitspferde. Doch bis er an seine Grenzen gelangte würde es noch eine ganze Weile dauern.

Mr. Chapman stand auf um mir den Vertrag zu holen, den er vor meinen Augen in einem großen Briefumschlag verschwinden ließ, der ihm offensichtlich schon zum zweiten Mal von Nutzen war - mindestens. Dann übergab er ihn mir mit den Worten: "Lies ihn dir Zuhause nochmal in Ruhe durch."

"Danke."

Nachdem ich den Umschlag ins Auto verfrachtet hatte ging ich endlich zu Primo. Irgendwie lief gerade alles gut für mich - Martin hatte mir ein Date versprochen, ich hatte mir meine Traum-Ausbildung gesichert und mit Primo war auch alles super. Es konnte nicht besser sein, zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht.

Die Woche darauf meldete ich mich von der Schule ab. Die Noten waren ohnehin beschlossene Sache, weshalb also sollte ich mich noch mit all dem Schabernack rumärgern? Als das geklärt war hatte ich plötzlich so viel Zeit. Ich fuhr jeden Morgen in den Stall um vor der großen Hitze mit Primo Victoria zu trainieren.

Diese Woche waren der Hengst und ich schon zweimal im Training bei Jörg gewesen und es war so anstrengend. Meine Muskeln machten schlapp: nichtmal aus dem Bett wollten meine Beine mich an diesem Morgen tragen. Primo guckte ganz ähnlich aus seiner Box.

"Heute kein Training." murmelte ich ausgelaugt. "Lass uns lieber was entdecken gehen."

Ausnahmsweise putzte ich ihn in seiner Box, während er fraß, dann holte ich seine Trense und führte den Schecken in den Gang um auf seinen Rücken zu klettern. Unsere "Entdeckungstour" begann mit dem eintönigen Geklapper der Hufeisen auf Beton - ein Geräusch, das
ich absolut liebte. Ich schlug den Weg durch die kleine Ortschaft ein und wir bogen so dann und wann mal ab um an den anderen Dorfrand zu gelangen. Manchmal passierten so viele aufregende Dinge auf einmal. Vielleicht spielte das Schicksal mir diesmal wirklich in die Hände... Wenn man zurückblickte, wo unsere Reise begonnen hatte, dann machte plötzlich alles Sinn. Oder zumindest fast alles. Dass mein großer Bruder nicht mehr da war, würde niemals einen Sinn ergeben. Ich seufzte. Die Gegend um uns herum veränderte sich. Während im Ort selbst noch einige neuere Häuser standen, weil hier das Bauland noch nicht so teuer war und man sich trotzdem in direkter Nähe zu Trier befand, gab es dort, wo wir ausritten, nur ein paar Häuser und Schuppen in denen vor einiger Zeit Tiere gelebt haben mussten. Eigentlich ganz nett. Das urige Flair war so beruhigend und ich nahm mir alle Zeit der Welt um mich umzusehen. Die Wiesen waren ab und an von morschen Försterzäunen umgeben und hin und wieder befanden sich zwischen ihnen kleine Apfelplantagen mit Bäumen die größtenteils schon vergangen waren. Primo Victoria schnappte sich von einem Weidenbaum einen langen Zweig und knabberte daran rum. Ich erblickte ein nettes Häuschen, dass zwar verlassen, aber noch intakt war, mit einem kleinen Stallgebäude in direkter Nähe.
"Lass uns gucken gehen." sagte ich zu meinem Pferd und trieb ihn wieder an. Das Gartentor, dessen beste Jahre wahrscheinlich schon eine Weile vorbei waren, stand offen und ich ritt hindurch. In meiner Vorstellung war dort, wo Primo und ich in diesem Augenblick standen, mal ein kleiner Garten mit allerlei Gemüse und Obst und verschiedenen Blumen gewesen - so ein richtiger Bauerngarten. Ich konnte es mir lebhaft vorstellen. Weiter hinten, beim Stall, hingen einige Türen nur noch spärlich in den Angeln und würden erneuert werden müssen. Man erkannte sogar noch den dunklen Anstrich mit Altöl wie es früher so üblich gewesen war. Mein Blick wanderte zur Rückseite des Hauses und der Terrasse, die man über wenige Stufen erreichte. Es musste hier im Herbst so schön sein, wenn man über die kleinen Hangwiesen und den Wald sehen konnte. Ach Quatsch! Sicher war es hier zu jeder Jahreszeit schön. Zwar musste an dem Haus selbst viel gemacht werden, aber es war toll. Die Lage war großartig. Ob die Wiesen dazugehörten?

Als ich genug gesehen hatte setzten wir unseren Weg wieder fort und ließen den kleinen Hof hinter uns. Aber ich bekam ihn eine Weile nicht mehr aus dem Kopf.

Primo Victoria - Von Hengsten und MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt