Das Kapitel in dem meine Welt meinem Pferd gehört

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Es war inzwischen Mitte Mai. Das Wochenende vor Pfingsten. Wiedermal Samstag. Zum Glück.
Primo und ich hatten diese Woche wirklich ehrgeizig trainiert und ich fand, dass wir uns eine Pause wirklich verdient hatten - das und die Tatsache, dass es verdammt warm war heute.

Das Wasser floss aus dem Schlauch in den Abfluss während ich Primo einschäumte. Ein Mal, nur ein einziges Mal wollte ich auf ein sauberes Pferd steigen um dann ausreiten zu gehen. Gut, zugegeben, auf den wenigen Turnieren, die wir besucht hatten, war er auch sauber gewesen... Und einige andere Male sicher auch, also vielleicht. Doch heute war Zeit wieder einmal im Überfluss vorhanden. Das Volleyballtraining ließen wir heute auch bleiben und trafen uns stattdessen bei Eva zum Filmeabend - ich war noch nie bei Eva gewesen, obwohl wir uns jetzt schon eine ganze Weile kannten... Bei Felix allerdings auch noch nicht.
Vorerst gehörte meine ganze Aufmerksamkeit jedoch meinem Esel, der übrigens just in diesem Moment seine Nüstern aufblähte und hörbar die Luft ausstieß. Ja, er war sehr entspannt. Primo Victoria genoss einfach jede Form der Aufmerksamkeit und manchmal schien es als wäre es ihm völlig bewusst, dass er meine meistens ungeteilt für sich hatte. Ich wusste zwar nicht, was dem Hengst vorher zugestoßen war und woher diese kleinen Narben kamen, aber was ich wusste war, dass er es verdiente wie ein wertvoller Schatz behandelt zu werden. Denn das war er.
Als ich ihn abduschte zerflossen die Mistflecken und liefen als gelbe Brühe an ihm hinab bis sie schließlich in der Kanalisation verschwanden. Einer der großen Vorteile an Primo war, obwohl er meistens dreckig war, dass er sich bereitwillig waschen ließ. Da konnte man nur von Glück sprechen. Andererseits wäre es ein Desaster für unser beider Nervenkostüm.

In der Sonne trocknete der Schecke ziemlich schnell wieder, aber das einzige Equipment, was ich heute an ihm befestigte, war seine Trense. Mir setzte ich wie jedes Mal meine alte, abgegriffene Reitkappe auf den Kopf. Fertig waren wir. Mit Hilfe eines Hockers kletterte ich auf seinen Rücken. Noch ein Mal rutschte ich mich zurecht mit den Zügeln in einer Hand. So saß ich dort, barfuß und in kurzen Hosen.

"Auf, auf." sagte ich und ließ meine rechte Hand mit den Zügeln auf den Mähnenkamm sinken, während die andere auf meinem Oberschenkel ruhte.
Es war das erste Mal, dass ich ihn blank in den Wald ritt ohne die Sicherheit des Voltegiergurts, und irgendwie war es okay. Primo Victoria hatte sich so sehr an das Ausreiten gewöhnt, dass es gar kein Drama mehr wert war. Das Training und die Abwechslung waren wohl der Schlüssel zu einem ausgeglichenen Pferd.
Wenn man bewusst das Schaukeln jedes  Schrittes genoss, konnte es einen schon ein wenig hypnotisieren. Man konnte nur von Glück reden dass es in Wald angenehm kühl war. Heute nahm ich einen ganz anderen Weg um mehr des Waldes zu erkunden. Die Hufeisen gaben vereinzelt klappernde Geräusche von sich, wenn sie mit einem Stein aneinander gerieten. Zum Traben war dieser Teil der Strecke nicht wirklich geeignet, aber wir mussten ja auch nicht. Mir gefiel das Schlendern. Auch Primo begann sich gelegentlich einen Happen Gras mitzunehmen, wo er ihn problemlos erreichen konnte. Unser Deal in dieser Hinsicht war: Fressen ist okay, anhalten deswegen nicht. Und inzwischen war Primo Victoria wirklich geschickt was die Futtersuche in Bewegung anging.
"Schwimmen gehen wäre doch auch mal schön." stellte ich fest. Irgendwo gab es doch bestimmt einen See, in den man hineinreiten konnte. Allerdings wusste ich nicht wo - so gut kannte ich mich hier dann doch nicht aus. Aber in einem Monat etwa waren ja schon Sommerferien, dann würde ich uns einen See finden gehen. Ob Primo schwimmen überhaupt mochte? Ich würde es wohl vor Ort rausfinden müssen.

Plötzlich kreuzte ein junger Rehbock unseren Weg und blieb keine zehn Meter entfernt stehen. Mein Hengst hielt ebenfalls an. Ich war so verzaubert von dem Bild, was sich mir bot. Eilig zog ich mein Handy hervor und aktivierte die Kamera. Der Bock betrachtete uns aufmerksam, doch gerade als ich ein Foto machen wollte lief Primo weiter und das Reh sprang weg... Meine Damen und Herren, das ist einer der Gründe weshalb Primo gemeinhin als Esel bekannt ist... Hilflos schüttelte ich den Kopf. Wie episch wäre dieses Bild bitte geworden? Wenn ich es denn hätte machen können.
Primo Victoria lief indes weiter und begutachtete seinerseits die Szenerie als wäre nichts gewesen. Für ihn war in Wirklichkeit auch nichts gewesen, nur für mich, aber ich war nicht sicher ob er dafür überhaupt ein Bewusstsein besaß.

Irgendwann verlief unser Weg parallel zu einer Bundesstraße.
"Ich weiß nicht, ich glaube, so ganz einfach führt hier kein Rundweg mehr zurück." sagte ich ein wenig verloren zu meinem Pferd. Ich parierte den Hengst durch und förderte wieder mein Smartphone aus der Hosentasche zu Tage, um dann bei Google Maps nachzusehen wo wir uns eigentlich befanden.
"Ah!" Das Element der Erkenntnis. Die App sagte, dass wir an einen Wanderweg kommen würden, wenn wir etwas weiter vorne die Straße überquerten. Und dieser sollte uns zumindest zurück nach Butzweiler führen. "Dann machen wir das doch."

Der Weg war sehr schön an einem breiten Bach gelegen. An einer seichten Stelle ließ ich Primo trinken. Der Hengst nutzte die Gelegenheit um sich auch die Füße zu kühlen und ein wenig zu planschen.
Mutwillig folgten wir dem Wasserlauf ein wenig. Mir gefiel wie der Bach plätscherte und die Vögel zwitscherten - für mich war das die Verkörperung von Harmonie.
Als wir eine geeignete Stelle fanden verließen Primo und ich das Wasser wieder und trabten nun auf dem einladenden Wanderweg eine Weile. Neben uns verlief eine Wiese mit jungen Rindern, die neugierig zum Zaun gehüpft kamen, aber der Hengst machte sich nichts aus ihnen, ganz im Gegenteil: er ignorierte sie weitestgehend und zog einfach sein Ding durch. Irgendwann kam ohnehin ein Trennzaun und da musste unsere Begleitung dann anhalten und sah uns nur noch sehnsüchtig nach. Eigentlich war es doch ein schön gelegene Weide für Tiere, so direkt am Bach. Wie gerne hätte ich sowas naturnahes vor der Haustür.

Primo Victoria - Von Hengsten und MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt