Das Kapitel über die Neuzugänge

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An diesem Morgen stand wieder Training mit Jörg an. Irgendwann hatte er meinen Großvater als Dressurtrainer abgelöst und mein Opa war nicht einmal sauer gewesen. Er begnügte sich inzwischen damit hin und wieder mit Mr. Chapman am Rand zu sitzen und so dann und wann mal ein paar Kommentare abzugeben. Doch heute waren Jörg und ich wieder mal alleine. Immer öfter übte er jetzt mit uns den Außengalopp, da er, neben den echten Seitengängen, essenziell für die M-Dressur war.

Ich wünschte, Primo und ich wären überhaupt schon so weit, dass wir auf Turnieren eine solide L-Dressur ablieferten. Doch, das war noch nicht drin, auch wenn Primo die Lektionen problemlos beherrschte. So viel Zeit blieb uns nicht mehr. 

"Das war schon 'ne schöne Versammlung!" lobte mich Jörg.

Irgendwie hatten die Jungs alle eine Motivator-Mütze auf, wenn sie mich trainierten. Bildlich gesprochen. So viel Lob war ich gar nicht gewöhnt. Doch es hinterließ jedes Mal ein gutes Gefühl. Sie hielten einen großen Anteil an meinem Erfolg und sorgten dafür, dass Primo und ich nicht an den Anforderungen zerbrachen. Nach wie vor war Primo immerhin noch ganz am Anfang seiner Karriere und ich verlangte verflucht viel von uns beiden. Sobald er seinen Job nicht mehr gerne machte würde ich das alles stoppen. Aber seine Freude, jeden Tag, wenn ich zu seiner Box kam, war Beweis genug, dass er noch lange nicht genug hatte. Nach dem Cup würde ich ihn allerdings in eine Winterpause schicken. Eine in der wir nur noch spaßige Sachen machten und weniger neuen Kram, damit er regenerieren konnte. Nächstes Jahr würde Primo Victoria immerhin erst acht Jahre sein. Das war nach meinem Dafürhalten doch noch sehr jung. Esperanza war schon neun Jahre gewesen als sie überhaupt in M-Dressuren ankam. Aber die beiden Pferde waren kaum zu vergleichen, immerhin war Espe auch von "Kindern" ausgebildet worden. Ich war noch deutlich jünger als ich mit ihr angefangen hatte und einige wichtige Erfahrungen in der Ausbildung waren erst durch Primo Victoria Teil meines Repertoires geworden.

Heute war Primo Victoria durch das Springtraining am Vortag so schön locker, dass es uns richtig leicht fiel Jörg seine Aufgaben umzusetzen. Der Außengalopp saß schon recht sicher und Primo hatte endlich gelernt abzuwarten bis er umspringen dürfte. Springpferde hatten für Außengalopp auch so etwas wie eine Autokorrektur und wollten immer in den richtigen Handgalopp wechseln. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin auf meinem hohen Ross. Wann war Primos Hals eigentlich so breit geworden? Auch die Textur war ganz anders, man sah auf seinen Muskeln kleine Adern hervortreten, wenn er im Training war. Seine Transformation war der Wahnsinn. 

Ich ließ mich von Primos Rücken rutschen als das Training beendet war.

"Wir setzen dich morgen auf Castelvano, damit du nochmal ein besseres Gefühl für den Trab bekommst." meinte Jörg. "Das sieht zwar inzwischen schon ganz gut aus, aber du musst nochmal an deinem Gefühl arbeiten."

Traben mochte ich tatsächlich wirklich nur so mäßig, weil ich es nicht so gut beherrschte, aber wer Profi sein wollte, der musste auch wie ein Profi trainieren - in allen Gangarten. Und Castlevano war ein Sofa, was den Sitzkomfort anging. Ich konnte schon verstehen, warum Jörg ihn so gerne ritt. 

Gerade führte ich Primo Victoria über den Hof als Henning und Thomas Pferde vom Transporter abluden. Es waren sehr unterschiedliche Tiere, zwar alle sehr langbeinige, doch von einem Stockmaß um die 1,60 Meter bis hin zu knapp 1,80 Meter waren einige vertreten. Nach wie vor war Mr. Chapman auch immer noch ein Pferdehändler und das Gestüt eine Hochburg für Sportpferde - immerhin gab es hier alles, was man bräuchte: Aufzucht, Hengste, Springpferde, Dressurpferde, Pension, Service, Zucht... Und das alles sollte wirklich noch ausgebaut und aufgebaut werden? Ich konnte mein Glück manchmal wirklich nicht fassen.

Vermutlich waren die Pferde hergeholt worden in Vorbereitung auf den internationalen Besuch. Ich war schon sehr gespannt wie die Mädchen aus Amerika so ritten.

Die Pferde wurden in den selben Stall gebracht in dem sonst auch die Stuten standen. Doch die meisten von ihnen verbrachten den Sommer mit ihren Fohlen draußen, auch Miracle. Außerdem boten vierzig Boxen wohl mehr als genug Platz. Henning führte gerade einen riesigen Schimmelwallach in eine Box als ich mich dazu gesellte.

"Du kannst mir bestimmt gleich helfen Boxenschilder zu schreiben, oder?" fragte er flehentlich.

Ich nickte. "Joa, die Zeit hätte ich."

"Bestens."

Nach und nach bezogen die Neuzugänge ihre Boxen und nahmen diese in Augenschein. Ich betrachtete jedes einzelne von ihnen. Ein Palomino war zwischen ihnen, ansonsten gab es viele Füchse und Dunkelbraune. Überwiegend Wallache. Henna hing das letzte Halfter an die Box und ich folgte ihm in das kleine Büro beim Casino. Meine Besuche in dem kleinen Büro ließen sich an einer Hand abzählen - ich wusste, dass es existierte. Da war eine Schlafcouch für die Nachtschicht während der Abfohlzeit, ein Schreibtisch und der dazugehörige Stuhl. Mehr nicht. Auf dem Schreibtisch hatte jemand bereits die Pferdepässe hingelegt und Henna zog jetzt einen Stapel Stammbaum-Vordrucke hervor, während ich mir einen zweiten Stuhl besorgte. Wir teilten die Pferdepässe auf und setzten uns dann hin.

Bei den Abstammungen waren alle wichtigen Springpferdevererber dabei: Stakato, Calido, Cumano, Quidam de Revel, Balou du Rouet, Kannan, Nabab de Reves und noch einige mehr. Keiner dieser tauchte in Primo Victorias Pedigree auf und doch war er ein ganz außergewöhnliches Pferd.

"Und? Jetzt hast du ja die Chaoten doch kennengelernt. Was sagst du zu ihnen?" erkundigte Henning sich nach meiner Meinung zu den Gestütern.

"Ich kenn von zweien nichtmal den Namen..." antwortete ich misstrauisch. "Und der Meester, oder wie er hieß, naja. Nicht so sympathisch."

Henna lachte auf. "Ja, den Eindruck hinterlässt er öfters. Muss man zu nehmen wissen, den Typen."

"Für mich wäre es okay, wenn ich ihm nicht so oft über den Weg laufe."

"Den Gefallen werden sie dir alle nicht tun." entgegnete er amüsiert. "Lass dir bloß keinen von ihnen ausgeben, wenn du ihnen mal alleine über den Weg läufst. Die wirst du nicht mehr los und gerade Philipp kann einen wirklich 'ne Beule an die Backe quatschen."

"Eine Beule an die Backe quatschen..." wiederholte ich belustigt. "Noch nie gehört."

"Naja, ist halt so!"

"Ich glaube dir ja!" lachte ich. "Hat Thomas sich Sorgen gemacht, dass die mich abwerben könnten?"

"ALLE haben sich Sorgen gemacht. Außer ich, natürlich. Du kannst eh nicht ohne den Schecken. Außerdem bist du doch hier zufrieden, oder nicht?"

"Klar, bin ich hier zufrieden. Hab doch die besten Kollegen und ein verdammt gutes Pferd. Mehr brauche ich gar nicht."

"Na, siehst'e."

Alle Möglichkeiten, die mir so ein Landgestüt bot, konnte mir Mr. Chapman genauso bieten und wahrscheinlich noch mehr.
Mein Handy vibrierte, also zog ich hervor.

>Hey, hast du morgen Abend schon was vor? (: < schrieb Martin.

>Falls nicht hätte ich da was mit dir vor.<

Ich lächelte mein Smartphone an.

>Ich hab Zeit. Wann?<

Primo Victoria - Von Hengsten und MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt