Das Kapitel mit dem Fortschritt

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Nachdem der Schultag vorbei war schlenderte ich durch die Stadt, mein Ziel war der Reiterladen. Es nieselte inzwischen nur noch, wie das im Januar ebend so üblich war. Der Himmel war grau und die Straßen am Freitagnachmittag überfüllt. Als Fußgänger war es manchmal doch wesentlich entspannter.

Ich öffnete die Tür zum Laden und strich mir beim Eintreten die Tropfen aus dem Gesicht. Es roch so herrlich nach Leder und Pflegeprodukten. Gab es diesen Duft eigentlich auch als Raumduft? Wenn ja, dann brauchte ich ihn unbedingt später für meine erste eigene Wohnung!
Die Verkäuferin stand vorbereitet an der Kasse und grüßte freundlich. Ich mochte diesen Laden sehr und verlor mich unmittelbar zwischen dem Regal mit den Halftern. Primo Victoria benötigte so viel, leider war mein Taschengeld jedoch sehr begrenzt, weshalb ich meine Ausgaben gut überlegen musste. Heute wollte ich nur ein Halfter mit Strick, eine Schabracke und Huftöl kaufen. Bei der Auswahl biss ich mir auf die Unterlippe. Es war doch so grausam! Die Sachen waren alle so schön. Eigentlich hätte ich mich am liebsten Stundenlang von meinem Liebeskummer abgelenkt und Sachen gekauft...

Dem schlechten Wetter zum Trotz fuhr ich mit dem nächstmöglichen Bus wieder zu Primo. Dieses Mal auch wieder mit Reithosen, ich wollte mein Glück versuchen - egal ob er mich wieder abschmiss. Nur Stillstand war ein Rückstand, aber wir wollten vorwärts.

Es war gähnend leer im Stall, bis auf einige Stallburschen, die meinen Weg kreuzten. So schleppte ich die beige Schabracke, das Gel Pad und Primo's neues Halfter zu seiner Box.
Der Schecke sah mich erwartungsvoll an, ich kramte ein Leckerlie aus der Tasche und hielt es ihm hin. Primo schien gute Laune zu haben.
Nachdem er sein Leckerlie genommen hatte tauschte ich sein altes Halfter gegen das neue, lila gestreifte aus. Es sah wirklich gut an ihm aus! Von der Form zwar einfach gehalten und ohne jeglichen Schnickschnack, aber diese Farbe gefiel mir. Und es war besser als dieses rostige Ding.
Zum Putzen band ich den Hengst heute an einen Platz in der Nähe von der Sattelkammer. Er sollte ruhig die anderen Pferde sehen.
Manchmal brummelte er, wenn woanders ein Pferd aus der Box geholt wurde. Wir befanden uns allerdings im Hengsttrakt, deswegen musste ich mir keine Sorgen machen, dass eine Stute vorbeigeführt werden würde und Primo sich aufregte. Die gleichmäßigen Bewegungen beim Striegel ließen mich kurzzeitig wieder in Gedanken versinken. Und wieder dachte ich an Martin... Es war nie leicht zum ersten Mal Kontakt mit jemanden aufzunehmen, da hatte ich wirklich Glück gehabt, dass der Sport uns das abgenommen hatte.. aber warum musste ausgerechnet er eine Freundin haben?! Ich seufzte. Verflucht! Geistesabwesend kratzte ich die Hufe aus und fettete sie ein. Der Anblick von geölten Hufen gefiel mir - und dieses Huföl roch sogar gut.

Als ich Primo Victoria's Sattel aufgelegt und festgegurtet hatte gingen wir zum Springplatz.

>Im Schritt sind es Schritte, im Trab Tritte und im Galopp sind es Sprünge.<

Der Regen fiel noch immer vom Himmel, wie eine leichte Dusche, aber das machte mir nichts. Ich schloss die Reitkappe und warf Primo die Zügel um.

"Wir werden okay sein, oder?" fragte ich ihn als ich mir den Bügel zum Aufsteigen hinhielt.

Der Hengst atmete hörbar aus und eine kleine Dampfwolke erschien vor ihm. Zwar wusste ich nicht was in ihm vorging, diese Vorgänge verstanden wir nicht, aber er schien gelassen. War das ein gutes Omen? Egal was es war, hier ging es um Schwimmen oder Sinken.
Der Sattel war bereits mit einem dünnen Film aus Wasser bedeckt als ich mich hineinzog und die Zügel aufnahm. Dafür, dass Primo Victoria so gut gestanden hatte, lobte ich ihn und wahrscheinlich auch um meine innere Unruhe zu beruhigen.

Ich ritt ihn aufmerksam ab und ließ mir viel Zeit um ihn Schritt zu reiten. Das war mir wichtig. Wahrscheinlich hatte er wieder den überwiegenden Teil des Tages in der Box verbracht, zumindest fühlte es sich so an, wenn man oben drauf saß. Er war steif. Sowas brauchte immer etwas Zeit, vor allem im Schritt. Ich musste einige Sachen mit Mr. Chapman besprechen, anderenfalls würde Primo in Mitleidenschaft gezogen werden, das galt zu vermeiden.
Nach einer viertel Stunde des Schrittreitens trabte ich ihn an und ließ ihm den Zügel so lang wie möglich. Das hieß allerdings auch, dass ich ihn immer noch kurz genug hatte falls der große Schecke losbockte oder erschrak. Auch wenn er einen ausgeglichenen Eindruck machte... das musste nicht immer viel heißen. Dieses Vertrauen musste ich erst noch zu ihm fassen, und er zu mir.
Als wir begannen zu galoppieren war meine Hose vom leichten Regen durchnässt, aber es war mir egal! Das Gefühl war zu schön, Primo Victoria gewann so viel Raum mit seinen Galoppsprüngen. Ich ließ ihn einfach nach Herzenslust dahin fliegen. Er rannte nicht wie wild geworden, sondern drückte sich kräftig vom Boden ab und landete wieder mit dem schmatzenden Geräusch seiner Hufe im Boden. Der Matsch wirbelte um uns herum. Es war einer unserer Marmeladenglas-Momente und ich wollte ihn nicht mehr gehen lassen.

Primo Victoria - Von Hengsten und MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt