Das Kapitel in dem wir hoch hinaus wollen

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Seit mein Bruder da war begleitete er mich regelmäßig zum Stall, was praktisch war, weil ich a) eine kostenlose Mitfahrgelegenheit hatte und b) jemanden der mir die Stangen hochhob.

Gerade parierte ich nach einem Sprung durch.
"Kannst du den Oxer noch drei Löcher höher machen?" rief ich Pascal zu.

Auch Mr. Chapman war heute zum Training erschienen, was mich freute. Der Hengst war heute super drauf!
Pascal schob die Stangenauflage hoch und legte das bunte Holz dann wieder ein.

"Jetzt sind wir bei 1,40m!"

Ich nickte. Dann galoppierte ich Primo wieder an. Die Gymnastikreihe machte mir inzwischen keine Sorge mehr. Ich ließ Primo kommen und er sprang rein. Man muss dazu sagen, dass wir die Gymnastikreihe deutlich verlängert hatten - es waren acht Sprünge und vor dem letzten Oxer lagen zwei Stangen.
Es war noch immer ein kleiner Traum wie konzentriert mein Pferd in der Reihe arbeitete, wie ein Profi. Kurz vor dem Oxer klemmte ich mich nochmal richtig an und gab Primo mehr Spielraum, immerhin wusste er besser als ich, was er gerade brauchte.

Der Hengst drückte mir einen mächtigen Satz unter und sprang ohne Probleme über das Hinderniss.
Manchmal hielt ich in solchen Momenten die Luft an.

Nachdem Sprung lobte ich ihn und ließ ihn am langen Zügel traben.

"Das war schon mal nicht schlecht." sagte ich zu meinem Bruder. "Ich glaube, für heute reicht es dann."

Primo Victoria war auch schon sichtlich geschwitzt, aber er hatte noch Power genug übrig.

"Na, das hat sich doch schön entwickelt, Camilla." meinte Mr. Chapman, der sich nun zu uns gesellte.

Ich trabte auf dem Zirkel um die beiden rum.
"Ich bin ganz zufrieden," entgegnete ich. "Langsam fühle ich mich bereit für die ersten Turniere."

"Sehr gut, sehr gut." antwortete er. "Nächstes Wochenende fahr ich mit Henning und Jörg zu einem Reitertag, für die Youngster. Wir könnten dich noch nachnennen, wenn du willst."

Nächste Woche... Plötzlich bekam ich ein wenig Muffensausen. Das war quasi nicht mehr lange hin... Aber ich musste irgendwann anfangen, also nickte ich entschlossen. Wie Henna gesagt hatte, erstmal geht's nur ums Überleben, dann kann man weitersehen.

"Ich leg dir den Plan für die Prüfungen ins Casino." sagte Mr. Chapman und ging dann auf seinen Gehstock gestützt los.

"Danke."

Langsam hielt ich Primo an und rutschte aus dem Sattel. Als der Bauchgurt gelöst war atmete der Hengst tief durch. Nächstes Wochenende stand also unser erstes kleines "Turnier" an. Verrückt. Ich konnte es kaum glauben, dass ich wirklich zugestimmt hab.

Pascal sah mich an. "Sah cool aus. Aber du plusterst manchmal die Backen so auf, wenn du konzentriert bist."

"Na toll! Jetzt werde ich jedesmal daran denken müssen, dass ich die 'Backen aufplustere'... Nicht witzig." sagte ich gespielt beleidigt.

"Wie ein kleiner, wütender Spatz."

"Ich nehm dich doch lieber nicht mehr mit zum Springtraining, Pascal." murmelte ich. "Wie ein wütender Spatz, ich glaube es auch, ja, ja."

Er lachte. "Ich helfe dir nur daran zu arbeiten."

"Toll..."

Wie schon gesagt, ich war wirklich nicht besonders fotogen. Turnierbilder vom Springen besaß ich deshalb nur, wenn sie von der Seite aufgenommen waren. Dann sah man das nicht so. Aber vielleicht sollte ich wirklich daran denken meine Gesichtsmuskulatur öfters mal zu entspannen während des Reitens...

Die nächsten Tage fanden wir uns häufiger auf dem Springplatz wieder. Eigentlich hatte ich ja nur Dressurprüfungen nennen wollen, auf den ersten Turnieren, aber ich hatte der Versuchung einfach nicht wiederstehen können und ein A-Springen mitgenannt. Primo und ich fuhren nur am Samstag mit um das Springen und eine E-Dressur mitzureiten. Das hatte natürlich den Nachteil, dass das Volleyballtraining am Samstag verschoben werden musste und das wiederum musste ich meiner Mannschaft noch möglichst schonend beibringen.

Am Donnerstag kam mein Opa wieder mit.

"Du kannst das mit dem Springen jetzt ruhen lassen bis zum Turnier, ihr könnt das." hatte er ernst gesagt.

"Aber für meine Unsicherheit ist das besser, wenn wir es üben." hatte ich geantwortet.

Opa meinte darauf nur: "Deine Nervosität hat nichts mit dem Springen zu tun, sondern mir der Gesamtsituation. Und die wird dadurch nicht besser, also konzentrieren wir uns auf das Wesentliche."

So war das gewesen. Opa gab mir an diesem Tag Dressurunterricht. Das mit Opa war wie Wahlpflichtkurs, man hatte zwar anfangs noch die Wahl, aber wenn man sich entschieden hat, dann war es Pflicht (zu machen, was er sagt). Wie immer musste ich Opa aber Recht geben, er hatte da ebend mehr Erfahrung als ich. Mit Primo Victoria würde das sicher ganz anders sein als mit Esperanza, die schon abgeklärt war. Vielleicht dachte ich das aber auch bloß und es würde alles irgendwie ganz schön werden.

Pascal jedenfalls hat die Unterrichtseinheit für mich gefilmt und ein paar schöne Bilder gemacht und danach sind wir drei noch zum Reiterlädchen gefahren und Opa hatte mir eine weiße Dressurschabracke gekauft. Meine erste.

Ich war also bestens vorbereitet. Auch wenn auf Reitertage keine Schwarz-Weiß-Pflicht herrschte in der Dressur, für mein Feeling und um der Ernsthaftigkeit Willen würde ich weiße Reithosen und Jacket tragen und Primo würde die weiße Schabracke tragen. Für das Springen musste ich seine Trainingsschabracke drunterlassen, weil ich halt keine andere besaß.

Der Tag rückte also näher und näher.

Als es soweit war standen Pascal und ich 5:30 Uhr im Stall. Ich band Primo Victoria vor seiner Box fest und machte mich daran die Mähne einzuflechten, während mein Bruder den Heuhalter für den Hengst machte. Keiner sprach wirklich ein Wort, weil wir so müde waren.
Meine eigenen Sachen hatte ich abends zuvor schon ins Auto gelegt. Meine Reitkappe hab ich abgesaugt und die rostigen Lüftungslöcher mit einem schwarzen Edding wieder schwarz gemacht, meine Stiefel waren frisch gefettet und gewienert, das Jacket hing feinsäuberlich hinten am Panikgriff im Auto und die weißen Handschuh, die ich wirklich lange suchen musste, lagen auch bereit.
Mein Zeug und die weiße Schabracke waren also da. Jetzt ging es nur noch um Primos Garderobe. Und darum ihn herzurichten.

Nach dem Flechten wusch ich ihm die letzten Mistflecken weg, schruppte seine Hufe blank und fettete sie mit Huföl ein.
Während Primo unter dem Solarium stand, mussten wir noch seine Trense saubermachen und die Sättel zurecht schnallen.

Ich war erleichtert als das geschafft war und noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt war.

"Und?" fragte mein Bruder, "nervös?"

Ich nickte. "Ein bisschen... Und am liebsten würde ich nochmal schlafen."

"Mach doch. Auto ist offen. "

Dankbar nickte ich und schlurfte zum Golf. Alles war verladen, bis auf die Pferde, warum also nicht noch ein wenig schlafen?

Auf dem Turnierplatz blieb mir noch viel Zeit zum Rumschlendern, da meine Prüfung erst später war. Ich war dankbar dass wirklich nur Pascal mitgekommen war zu meinem ersten Reitertag mit Primo. Auch wenn es meinem Großvater sicher unter den Fingernägeln gebrannt hatte.

Primo Victoria - Von Hengsten und MädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt