Klartext

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Ich stand vor dem Spiegel in meinem Motel-Zimmer und überlegte verzweifelt, was ich anziehen sollte. In Anbetracht der gesamten Situation sollte das meine kleinste Sorge sein. Aber ich hatte die Anderen noch nie persönlich getroffen und wollte einen guten Eindruck machen. Die Auswahl meiner Klamotten war wegen meines überstürzten Aufbruchs ziemlich dürftig. Ich entschied mich letztendlich für eine enge, dunkle Jeans und einen schlichten dunkelblauen Pullover. Meine Haare trug ich jetzt offen, durch die Zöpfe, die ich am Morgen geflochten hatte, waren sie jetzt wellig. Das gefiel mir. Ob es Jake wohl auch gefallen würde?

"Komm schon Tasha, wie alt bist du eigentlich? 12? Jake interessiert sich ganz sicher nicht dafür, wie deine Frisur gerade sitzt"

Ich schnappte mir meine Jacke, Schlüssel, Portemonnaie und verließ das Motel. Ich setzte mich ins Auto und machte mich auf den Weg zu der Adresse, die Jessy mir gegeben hatte. Ein bisschen nervös war ich schon. Es wäre schön, wenn ich die Anderen unter anderen Umständen hätte kennlernen können, aber sie waren mir sehr ans Herz gewachsen. Abgesehen von ihnen hatte ich nicht besonders viele Freunde. Eigentlich gar keine, um genau zu sein. Aber das war für mich bisher nie ein Problem gewesen. Bevor ich in die ganze Hannah-Geschichte hineingezogen wurde, hatte ich mich voll und ganz auf mein Studium konzentriert. Ich studierte Literatur im dritten Semester. Das war alles, was für mich zählte. Seltsam, wie schnell sich die eigenen Prioritäten ändern konnten. Ich war mittlerweile seit zwei Wochen nicht mehr in der Uni gewesen, weil die Ermittlungen meine ganze Zeit beanspruchten. Und ich war mir sicher, dass es niemandem aufgefallen war. Nicht einmal meiner Familie würde es auffallen, dass ich weg war.. Ich verdrängte den Gedanken schnell wieder, da mein Navi mir mitteilte, dass ich mein Ziel erreicht hatte. Jessy wohnte in einem Mehrfamilienhaus südlich am Rande von Duskwoods Innenstadt. Ich parkte meinen Wagen an der Straße und stieg aus. Als ich an der Tür ankam, klingelte ich bei Jessy. Noch immer war ich nervös, schließlich kannte ich sie alle bisher nur über das Handy. Aber es wurde Zeit, das zu ändern. Sie lies mich rein, nachdem sie sich über die Gegensprechanlage versichert hatte, dass ich es war und ich machte mich durch das Treppenhaus auf den Weg zu ihrer Wohnung.
Meine Befürchtungen, es könnte zunächst seltsam werden, lösten sich direkt in Luft auf, als ich an ihrer Wohnungstür ankam. Jessy fiel mir sofort in die Arme und drückte mich ganz fest an sich. Ich musste ein wenig Lachen, genau so eine Reaktion hätte ich von Jessy erwarten können.

Jessy: "Da bist du ja, Tasha! Es ist so schön, dass wir uns endlich richtig sehen können!"

Sie grinste über beide Ohren und es war so ansteckend, dass auch ich anfing zu strahlen.

"Ich freue mich auch sehr, Jessy!"

Sie packte mich am Arm und zog mich hinter sich her in die Wohnung. Sie führte mich durch einen Flur ins Wohnzimmer. Dort saßen schon die Anderen alle versammelt auf dem Sofa.

Jessy: "Schaut mal, wen ich euch mitgebracht habe!"

Ich wurde ein wenig rot als mich alle anstarrten, denn ich war niemand, der gerne im Mittelpunkt stand.

"Hey Leute, schön euch endlich leibhaftig kennenzulernen"

Ich lächelte schüchtern, aber da standen sie auch schon einer nach dem anderen auf und kamen zu mir, um mich zu begrüßen. Cleo und Lilly umarmten mich ebenfalls. Ich war froh, dass ich mich mittlerweile auch mit Lilly verstand. Auch wenn ich sie anfangs wirklich nicht ausstehen konnte und ihr am liebsten den Hals umgedreht hätte, als sie dieses Hetzvideo über Jake und mich veröffentlich hatte, aber sie hat wirklich versucht es wieder gut zu machen und ich vertraute ihr. Außerdem war sie Jakes Schwester. Wie konnte ich mir erhoffen, dass da vielleicht mehr zwischen uns war, wenn ich mit seiner Schwester zerstritten war?
Als Nächstes kam Thomas auf mich zu. Er wusste genau so wenig, wie er mit mir umgehen sollte, wie ich mit ihm. Wir verstanden uns gut, keine Frage, aber besonders eng war unsere Freundschaft bisher nicht. Also schüttelten wir uns die Hände und lächelten uns an. Als Letztes kam Dan um das Sofa herumgerollt. Er saß in seinem Rollstuhl. Als er vor mir hielt, grinsten wir uns sofort an. Man merkte, dass wir beide schon überlegten, welchen Spruch wir dem Anderen drücken konnten.

"Schickes Gefährt hast du da, Jack Daniels"

Er grinste noch breiter und ließ mich damit wissen, dass er von meiner Schlagfertigkeit keineswegs enttäuscht war.

Dan: "Nicht schlecht, Kleines. Und du bist ganz alleine herkommen? Hat Hackerboy dich aus seinen Fängen entlassen?"

"Touché"

Wir gaben uns einen Faustcheck, dann rollte er wieder an seinen Platz.

Wir alle setzten uns auf das Sofa und ich landete zwischen Jessy und Lilly. Erst jetzt hatte ich die Gelegenheit, mir Jessys Wohnung genauer anzusehen. Sie war sehr einladend und bunt eingerichtet, aber es war gemütlich und passte irgendwie zu Jessy. Ich war auch kein bisschen überrascht, als ich in einem Schrank neben ihrem Fernseher unzählige Horrorfilme entdecke. Sie hatte ja schon einmal erwähnt, dass sie auf so etwas stand.

Jessy:" Also Tasha, jetzt spann uns nicht länger auf die Folter. Wie kommt es, dass du plötzlich hier bist?"

Ich atmete tief durch. Alle sahen sie mich erwartungsvoll an. Wo sollte ich nur anfangen..?

"Als ihr in dieser Hütte wart und die Verbindung zu euch abbrach, da war die Entscheidung für mich klar. Ich machte mich sofort auf den Weg zu dieser Hütte, weil ich mir sicher war, dass er euch geschnappt hatte.. aber als ich dort ankam, wart ihr schon längst fort. Ich hatte Jessys Nachricht zu spät gesehen.."

Jessy lächelte reumütig, doch ich machte ihr keinerlei Vorwürfe.

"Aber es war nicht ihre Schuld. Letztendlich war es meine Schuld, dass es soweit kam.."

Ich senkte den Blick, denn ich kam mir ziemlich blöd vor. Meine Entscheidung war übereilt und leichtsinnig gewesen, das war mir nun klar.

Cleo: "Was meinst du damit, Tasha?"

"Er hat mit mir Kontakt aufgenommen. Der Mann ohne Gesicht. Er schrieb mir Nachrichten über Hannahs Handy. Er drohte mir immer wieder damit, euch etwas anzutun, aber ich dachte wirklich in der Hütte wärt ihr in Sicherheit und seine Drohungen haben mich einfach so wütend gemacht. Ich habe ihm einige Dinge an den Kopf geworfen und ihm ebenfalls gedroht. Ich schätze, damit habe ich ihn provoziert.."

Lilly: "Das ist doch nicht deine Schuld. So hätte vermutlich jeder von uns reagiert. Und außerdem war er ja gar nicht dort. Der Strom fiel aus und wir sind sofort abgereist. Das Ganze war uns nicht mehr geheuer, nachdem er uns angerufen hatte, aber scheinbar wollte er uns nur Angst machen."

"Nein Lilly.. er war dort, aber nicht ihr wart sein Ziel. Ich bin auf das Ganze reingefallen. Er ist nicht euretwegen gekommen. Er war meinetwegen dort und ich bin im direkt in die Arme laufen"

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