Plötzlich ergab alles Sinn.
Aus dem Winkel, in dem sie Hannah fotografiert hatten, konnte man einen Teil des Raumes sehen. Der Boden war aus alten Holzdielen und auch die Wände waren mit Holz verkleidet. In der linken Ecke des Fotos konnte man ein Stück eines Fensters erkennen und da war es mir klar. Ich hatte diese Fensterläden schon einmal gesehen.
Es gab einen Ort, den ich bei meine Recherche völlig außer Acht gelassen hatte, dabei lag es eigentlich auf der Hand. Und dieser Ort befand sich noch dazu ganz in meiner Nähe. Es war so offensichtlich, dass wir von Anfang an gar nicht auf die Idee gekommen waren, Hannah dort zu vermuten. Ich war bereits an diesem Ort gewesen. Zumindest in gewisser Weise. Richy hatte mich dorthin mitgenommen, als er in den Wald gegangen war. Es war die Mutprobenhütte. Er hatte damals an die Tür geklopft, doch nichts war passiert. Klar, warum sollten die Entführer ihm auch einfach so die Tür öffnen und somit ihre Deckung aufgeben? Und als Richy erneut in den Wald gegangen war, hatten sie beschlossen, dass er ihnen im Weg war.
Es war also tatsächlich die ganze Zeit der Wald gewesen, von dem wir uns fernhalten sollten. Anfangs hatte ich vermutet, dass sie damit nur eine falsche Fährte legen wollten, damit wir am falschen Ort nach ihr suchten. Dabei hatte diese umgekehrte Psychologie wunderbar funktioniert.Jetzt, wo ich wusste, wo sie Hannah festhielten, war es an der Zeit. Mein Plan musste vollendet werden.
Wir hatten es mit zwei Tätern zu tun. Mit Beiden auf einmal konnte ich es unmöglich aufnehmen und sie würden Hannah vermutlich niemals völlig allein lassen. Es ging also zunächst darum, sie zu trennen. Und das auf möglichst große Distanz. Wenn ich einen von ihnen aus der Stadt locken konnte, wäre der Andere auf sich allein gestellt. Dann könnte ich den Anderen Hannahs Aufenthaltsort verraten und sie könnten den Täter gemeinsam überwältigen. Währenddessen musste ich mich dem Anderen stellen.
Mittlerweile hatte ich einen Punkt erreicht, an dem mir dieser Gedanke bei weitem nicht so viel Angst einjagdte, wie vermutlich angebracht gewesen wäre. Ich wollte, dass das alles endete.
Ich würde die Anderen nicht einweihen können. Das Risiko, dass Josh und Hanson davon etwas mitbekommen würden, war einfach zu hoch. Doch irgendetwas musste ich tun. Sie würden nicht lockerlassen. Noch immer vibrierte mein Handy im Minutentakt. Ich öffnete den Gruppenchat und traf eine folgenreiche Entscheidung. Ich hoffte sehr, dass sie es irgendwann verstehen würden. Wenn mein Plan aufging, würde es das alles wert gewesen sein.
Ohne die Nachrichten der Anderen zu lesen, tippte ich meine eigene Abschiedsnachricht und hoffte sehr, dass es kein Abschied für immer sein würde."Es tut mir leid. Das Ganze ist außer Kontrolle geraten. Ich muss es nun selbst in die Hand nehmen. Es wird mit mir enden. Bitte tut nichts Unüberlegtes und geht noch nicht zur Polizei. Ich weiß, was ich tue. Bitte vertraut mir und passt auf euch auf"
Ich sendete meine Nachricht ab und wartete gar nicht erst auf ihre Reaktionen. Das würde es mir nur noch schwerer machen.
Ich atmete noch einmal tief durch und verließ dann die Gruppe.
Da war er, der glatte Bruch. Sie würden wieder von mir hören, wenn die Zeit gekommen war. So einsam, wie in diesem Moment, hatte ich mich vermutlich noch nie gefühlt, weswegen ich mir Jakes Hoodie anzog. So hatte ich wenigstens etwas von ihm bei mir. Ich begann meine Sachen zusammen zu suchen und packte meine wenigen Habseligkeiten zurück in meinen Koffer. Als ich hier her gekommen war, hatte ich gedacht, ich würde Duskwood erst wieder verlassen, wenn alles vorbei war. Stattdessen verließ ich Duskwood, um es zu Ende zu bringen. Während meines Aufenthaltes hier, hatte ich einfach alles verloren, was mir etwas bedeutete. Zuerst Jake und nun hatte ich auch meine Freunde von mir gestoßen.
Ich sah mich ein letztes Mal im Zimmer um und überprüfte, ob ich etwas vergessen hatte. Dann steckte ich mein Handy in die Hosentasche, zog mir die Kapuze über den Kopf und machte mich auf den Weg.
Auf dem Parkplatz wehte mir ein kalter Wind entgegen. Es war bereits dunkel geworden, doch das spielte keine Rolle mehr. Die Zeit, in der ich Angst gehabt hatte, mir könnte allein in der Dunkelheit etwas zustoßen, war vorbei.
Meinen Koffer warf ich auf den Rücksitz, stieg dann hinters Lenkrad und startete den Motor. Es war an der Zeit, nach Hause zu fahren. Ich starte den Motor und fuhr los, genau wie ich es an dem Abend getan hatte, als ich beschlossen hatte, meine Freunde zu retten.
Die Fahrt dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Bei meiner Anreise war ich vom Adrenalin getrieben, wie eine Verrückte nach Duskwood gerast. Doch nun fuhr ich ganz normal. Es gab nichts mehr, wovor ich hätte fliehen können.
Die Stille im Wagen brachte mich beinahe um. Am Liebsten hätte ich Jake angerufen und mit ihm geredet, doch das war unmöglich.
Als ich schließlich in die vertraute Straße einbog und mein Auto vor dem Miethaus parkte, indem ich wohnte, musste ich feststellen, dass es sich nicht mehr wie mein zu Hause anfühlte. Ich würde wahrscheinlich nie mehr hier her zurückkehren, also sollte ich mich besser daran gewöhnen.
Ich ging durch das Treppenhaus in den zweiten Stock hinauf und öffnete die Tür zu meiner Wohnung. Alles war noch genau so, wie ich es zurückgelassen hatte.
Ich warf den Koffer auf mein Bett und tauschte ihn schließlich gegen einen Rucksack. Ich suchte meine wichtigsten Sachen zusammen, mein Notebook, ein paar Fotos von meinen Eltern und mein gesamtes Erspartes landeten mit ein paar wenigen frischen Kleidungsstücken in diesem Rucksack. Viel würde ich nicht mitnehmen können, also entschied ich mich für die Dinge, auf die ich unmöglich verzichten konnte.
Schließlich zog ich den Reißverschluss zu und setzte mich einen Augenblick auf mein Bett, um mich von meinem alten Leben zu verabschieden. Ich wusste nicht, wie dieser Abend enden würde, doch ich musste auf alles vorbereitet sein.
Mein Blick wanderte durch den Raum. Ich war hier vor vier Jahren eingezogen. Vier Jahre lang hatte mein Leben immer gleich ausgesehen und nun hatten wenige Wochen alles auf den Kopf gestellt.
Ich musste Jake schreiben. Nein. Ich wollte Jake schreiben. Ich konnte das hier nicht durchziehen, ohne ihm eine vernünftige Erklärung dafür zu liefern. Das war ich ihm schuldig."Hey Jake,
was nun kommt, wird dir vermutlich nicht gefallen. Das tut es mir auch nicht. Ich hoffe, dass du in Sicherheit bist. Alles Andere könnte ich nicht ertragen. Es ist wirklich viel passiert, seit du gehen musstest. Ich weiß, es sind erst ein paar Tage vergangen, doch es kommt mir vor, wie eine Ewigkeit.
Richy ist tot. Sie haben ihn umgebracht, Jake. Sie haben es wirklich getan. Das alles ist meine Schuld. Ich hätte sie früher aufhalten müssen, aber ich war zu langsam. Eines weiß ich jedoch mit Sicherheit, sie werden dafür büßen.
Ich habe einen Plan. Du würdest mich bestimmt davon abhalten, aber es muss sein, denn es gibt keinen anderen Ausweg mehr. Wenn alles nach Plan verläuft, dann ist morgen um diese Zeit bereits alles vorbei. Die Anderen werden Hannah gefunden und befreit haben. Und ich werde sie gestoppt haben. Dann ist dieser Albtraum ein für alle Mal vorbei. Die Anderen werden in Sicherheit sein und können allmählich in ihr altes Leben zurückkehren.
Du hattest Recht, weißt du? Es beginnt und endet mit mir. Ich bin der Schlüssel. Zwar weiß ich noch immer nicht, wieso, doch ich hoffe, dass ich auch dieses letzte Rätsel noch lösen werde. Schon bald werde ich ihm gegenüber stehen und hoffentlich alle Antworten bekommen.
Es tut weh, dass ich dir das alles nicht mehr persönlich sagen kann, aber du sollst wissen, dass du der Grund bist, warum ich in all der Zeit niemals aufgegeben habe. Du hast mir Kraft gegeben und mich lebendig gemacht. Ich bin für jeden einzelnen unserer Augenblicke so unglaublich dankbar. Nichts davon würde ich jemals ungeschehen machen wollen.
Vielleicht wird alles gut gehen und wir sehen uns bald wieder. Ich werde alles tun, damit wir wieder zu einander finden. Bitte versprich mir, dass du dich nicht in Gefahr bringst. Deine Sicherheit hat noch immer oberste Priorität und ich kann das hier nur durchziehen, wenn ich weiß, dass du nicht involviert bist. Trotzdem werde ich dich immer bei mir tragen.
Meine Zeit wird langsam knapp. Du sollst wissen, dass du das aller Wichtigste für mich bist.
Ich liebe dich, Jake. Mehr als alles Andere"Ich sendete die Nachricht ab und verschloss dann mein Herz.
Schließlich stand ich auf, steckte die Pistole in meine hintere Hosentasche und zog den Hoodie darüber.
Es war an der Zeit.

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A Duskwood Story
Mystère / ThrillerSie darf keine Zeit mehr verlieren. Ihre Freunde sind in Gefahr, und so beschließt Tasha, entgegen ihres Versprechens, nach Duskwood zu reisen, um dem Albtraum ein Ende zu bereiten. Doch was, wenn der Mann ohne Gesicht genau darauf gewartet hat? Kan...