Von weit her drang eine Stimme zu mir durch. Sie war weiblich. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es Lillys Stimme war. Ich konnte nicht verstehen, was sie zu mir sagte, es schien, als würde sie von weit weg meinen Namen rufen. Doch es war dunkel und ich wusste nicht, wo ich war. Ich konnte meinen Körper nicht spüren. Es fühlte sich an, als wäre ich von der Welt abgeschnitten worden. Nichts ergab mehr Sinn. Dann kamen allmählich die Erinnerungen zurück und trafen mich mit voller Wucht. Richy. Er war tot. Sie hatten ihn umgebracht und ich hatte es nicht verhindert. Nie wieder würde er in unsere Gruppe zurückkehren, nie wieder in der Werkstatt arbeiten und seine Eltern würden ihren Sohn niemals wieder sehen. Noch vor wenigen Minuten hatten wir gedacht, dem Albtraum endlich ein Ende setzen zu können. Wir hatten sie durchschaut und gehofft, dass die Polizei sie nun endlich fassen könnte. Dass Richy und Hannah bald wieder bei uns sein würden. Doch wir hatten Richy verloren. Wer garantierte uns also, dass Hannah nicht auch tot war? Genau. Niemand. Der Albtraum war noch lange nicht vorbei.
Wieder drang Lillys Stimmte zu mir durch, doch sie wurde mittlerweile klarer, als würde uns nur noch ein feiner Schleier voneinander trennen. Ich konnte ihre Hände auf meinem Körper spüren, wie sie meine Schultern packte und an mir rüttelte. Währenddessen rief sie immer wieder meinen Namen. Und dann war ich wach. Plötzlich schlug ich die Augen auf und war zurück in der Realität. Lilly war über mich gebeugt und schaute panisch auf mich herunter. Als sie sah, dass ich wieder bei Bewusstsein war, atmete sie erleichtert aus. Ich sah mich um. Ich lag auf dem Boden meines Motelzimmers. Offenbar war ich ohnmächtig geworden.Lilly: "Tasha.. Gott sei Dank. Ich hatte solche Angst um dich. Du bist einfach zusammengebrochen. Wie fühlst du dich? Geht es dir besser? Soll ich einen Krankenwagen rufen?"
Bestimmt schüttelte ich den Kopf und versuchte mich aufzusetzen. Lilly griff nach meiner Hand und half mir dabei.
"Alles okay.. gib mir nur einen Moment.."
Doch nichts war okay. Ich wusste nicht, wie ich das hier ertragen sollte. Wir hatten unseren Freund verloren. Die Gedanken daran, was er vor seinem Tot wohl alles hatte durchmachen müssen, brachten mich beinahe um den Verstand. Ich schlang meine Arme um die Knie und senkte meinen Kopf. Tränen flossen aus meinen Augen und mein ganzer Körper begann zu beben. Dann spürte ich Lillys Arme, die sich um meinen Körper schlossen. Ich verschränkte meine Arme mit ihren und so saßen wir eine Weile einfach nur da und versuchten zu realisieren, was passiert war.
Als ich den Kopf schließlich wieder hob, sah ich, dass auch Lilly weinte. Mitfühlend sah ich sie an. Auch wenn die ganze Situation gerade einfach nur furchtbar war, so war ich trotzdem froh, dass Lilly hier bei mir war und ich es nicht alleine durchstehen musste.Lilly: "Wir sollten zu den Anderen fahren.. Thomas hat mich gebeten, dass wir dazu kommen. Sie sind alle bei Jessy"
Sie wischte sich gerade die Tränen von den Wangen. Ihre Augen waren gerötet und ich konnte ihr ansehen, wie schwer es ihr fiel, sich zusammenzureißen. Doch Lilly hatte Recht. Die Anderen brauchten uns jetzt. Also stand ich langsam auf und half auch Lilly wieder auf die Beine. Alles fühlte sich völlig surreal an. Ich schnappte mir meine Jacke und gemeinsam machten wir uns wieder auf den Weg nach draußen.
"Schaffst du es zu fahren? Ich kann auch.."
Lilly nickte und wir stiegen in ihr Auto ein. Die Autofahrt zu Jessy verlief still, aber tränenreich. Ich dachte daran, dass wir vorhin erst all die Polizeiwagen gesehen hatten. Und jetzt wussten wir auch, was vorgefallen war. Sie hatten Richy gefunden. Wann war alles nur so furchtbar schief gegangen? Vor wenigen Wochen noch waren wir voller Hoffnung gewesen, die beiden lebend zu finden. Doch jetzt war davon nichts mehr übrig. Auch Lilly mussten diese Gedanken durch den Kopf gehen. Sie hatte gerade einen guten Freund verloren und wurde zudem noch von der schrecklichen Angst begleitet, ihre Schwester könnte die Nächste sein, die tot aufgefunden werden würde.
Wir kamen bei Jessy an und ich sah, dass die Autos der Anderen bereits vor der Tür standen. Jetzt waren wir alle da. Naja.. fast alle.
Dan öffnete uns die Tür und schloss uns in die Arme. Auch ihm war anzusehen, wie sehr ihn das Ganze mitnahm. Er tat zwar immer so, als würde ihm das Ganze nichts ausmachen, doch jetzt bröckelte auch seine Fassade. Wir lösten uns aus der Umarmung und folgten ihm ins Wohnzimmer, wo Jessy, Cleo und Thomas bereits versammelt waren. Sie alle saßen auf dem Sofa, Thomas einen Arm um Jessy gelegt und sie weinten. Niemand sagte etwas, denn uns allen fehlten die Worte. Ich ging zu ihnen und Jessy sah mich an. Ihre Augen waren rot gerändert und bereits angeschwollen von den vielen Tränen. Ich setzte mich zwischen sie und Cleo und sie fiel mir in die Arme. Ihr Schluchzen ging mir durch Mark und Bein. Sie und Richy hatten sich vermutlich am nächsten von allen gestanden. Sie legte ihren Kopf an meine Schulter. Ich sah Thomas an und wir nickten uns zu, um dem anderen mitzuteilen, dass es schön war, ihn zu sehen. Cleo, die nun auf der anderen Seite neben mir saß, sah mich ebenfalls mit tränenverschleiertem Blick an. Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie. Jetzt war nicht die Zeit für große Gespräche. Wir waren einfach alle füreinander da und niemand blieb allein. Lilly setzte sich zwischen Jessy und Thomas und auch Dan gesellte sich zu uns. Und so saßen wir da. Unser kleiner Haufen, zumindest die von uns, die noch übrig waren. Wir alle waren unsagbar erschöpft und irgendwann waren die Tränen versiegt. Jessy war bereits an meiner Schulter eingeschlafen und ich versuchte, sie nicht zu wecken. Auch Cleo und Lilly lagen zusammengerollt auf der Couch und schliefen. Nur noch Dan, Thomas und ich waren wach. Ich war einfach nur müde. Müde von all den schlechten Ereignissen in der letzten Zeit und müde vom Leben. Thomas sah mich an.Thomas: "Du solltest auch versuchen etwas zu schlafen, Tasha. Wir sind ja hier. Ruh dich etwas aus", flüsterte er.
Es war lieb, dass er sich um mich sorgte, doch ich hatte Angst zu schlafen. Angst davor, was ich sehen würde, wenn ich die Augen schloss und Angst davor, dass noch etwas schreckliches passieren würde, während ich schlief. Doch irgendwann konnte auch ich die Augen nicht länger offen halten, lehnte meinen Kopf gegen Jessys und schlief ein. Entgegen meiner Erwartungen schlief ich traumlos und dafür war ich sehr dankbar. Trotzdem wachte ich mitten in der Nacht auf. Im Zimmer war es dunkel und alle schliefen. Alle außer Dan. Er saß auf einem Stuhl am Fenster und sah hinaus. Vorsichtig, ohne die Anderen zu wecken, stand ich auf. Ich nahm eine Wolldecke und breitete sie über Jessy und Cleo aus. Dann ging ich auf Zehenspitzen rüber zu Dan. Ich setzte mich auf die Fensterbank und sah ihn an.
Dan: "Na Kleines, kannst du nicht mehr schlafen?"
Ich schüttelte den Kopf. Ich war zwar noch immer müde, doch ich wollte sehen, wie es Dan ging.
"Du schläfst ja offenbar auch nicht. Es tut mir leid, was passiert ist, Dan"
Dan: "Weißt du, ich fühle mich einfach machtlos. Als wir bei dem Haus im Wald waren, habe ich dir gesagt, ich wolle die Anderen beschützen. Scheinbar war ich nicht sehr erfolgreich darin"
Niedergeschlagen sah er mich an.
"Was mit Richy geschehen ist.. das ist nicht deine Schuld Dan. Du hättest es vermutlich auch nicht verhindern können. Darauf waren wir nicht vorbereitet"
Er drückte kurz meine Schulter, bevor er seinen Blick wieder abwandte und aus dem Fenster sah. Ich ließ meinen Blick durch den Raum wandern. Dort lagen sie. Meine Freunde, die ersten und einzigen wahren Freunde, die ich jemals hatte. Ich konnte nicht riskieren, dass noch jemandem von ihnen etwas zustieß. Und in diesem Moment traf ich eine Entscheidung. Doch diese würde bis morgen warten müssen. Sie brauchten mich jetzt. Dan riss mich aus meinen Gedanken.
Dan: "Leg dich noch etwas hin, ich halte hier solange die Stellung"
Ich nickte, denn ich wusste, ich konnte ihn sowieso nicht dazu bewegen, schlafen zu gehen. Also stand ich auf und ließ mich in einem Sessel gegenüber von den Anderen nieder. Ich zog die Beine an und schloss die Augen. Ich dachte an Jake. Ob es ihm gut ging? Vermisste er mich genauso, wie ich ihn? Ich hätte ihm so gerne erzählt was passiert war, doch ich wusste, wenn er es wüsste, würde er sich umso mehr Sorgen um mich machen und möglicherweise etwas Dummes tun. Also beschloss ich, es erst einmal für mich zu behalten. Aber es war an der Zeit, endlich etwas zu unternehmen. Es war an der Zeit, diesen Albtraum zu beenden.
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A Duskwood Story
Mystery / ThrillerSie darf keine Zeit mehr verlieren. Ihre Freunde sind in Gefahr, und so beschließt Tasha, entgegen ihres Versprechens, nach Duskwood zu reisen, um dem Albtraum ein Ende zu bereiten. Doch was, wenn der Mann ohne Gesicht genau darauf gewartet hat? Kan...