Auge in Auge

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Dann war es still. Keiner von uns beiden machte auch nur das kleinste Geräusch. Wir waren in die dunkelste Ecke hinter einem Müllcontainer zurückgezogen, bewegten uns nicht und hofften auf das Beste. Seine Hand lag noch immer auf meinem Mund und sein anderer Arm umschloss meinen Körper, sodass ich meine Arme nicht bewegen konnte. Ich konnte seine Anspannung förmlich spüren. Wie konnte es nur sein, dass er wirklich hier war?
Es kam mir vor wie Stunden, dabei waren es vermutlich nur wenige Sekunden, als ein Schatten gefolgt von schnellen, schweren Schritten die Gasse erreichte, in der wir uns befanden. Er schien stehen geblieben zu sein. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich dachte: "Das wars, er hat uns gefunden", doch dann setzten die Schritte sich erneut in Bewegung und wurden immer leiser. War er wirklich weg?
Noch immer standen wir dort, wie betäubt. Ich konnte mich nicht rühren, die Angst hatte mich völlig gelähmt. Mein Puls raste und ich versucht zu realisieren, was gerade geschehen war.
Scheinbar war er sich sicher, dass der Mann ohne Gesicht nicht zurückkommen würde, denn er lies jetzt die Hand von meinem Mund gleiten und löste seinen Griff. Das ließ mich aus meiner Starre erwachen. Langsam drehte ich mich zu ihm um und da sah ich ihn zum aller ersten Mal. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, es war zu dunkel und die Kapuze seines Hoodies verdeckte sein Gesicht zusätzlich, trotzdem hatte ich keinerlei Zweifel daran, dass er es war. Bereits als ich seine Stimmte gehört hatte, wusste ich es. Allein seine Anwesenheit hatte dafür gesorgt, dass ich mich plötzlich etwas sicherer fühlte. Noch immer konnte ich seine Wärme und seine Berührungen auf meinem Körper fühlen, beinahe so, als würde er mich noch immer festhalten.
Ich schaute ihn direkt an. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich konnte einfach nicht begreifen, dass er tatsächlich hier war. Ich wollte ihm so vieles sagen und ihm unendlich viele Fragen stellen, aber ich konnte in meinem Kopf keinen vernünftigen Satz formulieren.

"Jake.." flüsterte ich, mehr brachte ich nicht heraus.

Er nahm meine Hand zog mich sanft hinter sich her.

Jake: "Komm, wir müssen hier weg"

Ich folgte ihm, ohne überhaupt zu wissen wohin. Ich vertraute ihm einfach, so, wie ich es die ganze Zeit über getan hatte. Wir liefen zum Ende der Gasse, und ich versuchte nicht zu fallen, da ich ziemlich unsicher auf den Beinen war. Dort angekommen schaute Jake sich um. Als er sich sicher war, dass die Luft rein war, zog er mich weiter. Ich weiß nicht genau, wie lange wir liefen, denn ich war zwar körperlich anwesend, meine Gedanken waren jedoch ganz weit weg. Ich nahm alles um mich herum kaum wahr, es war, als würde es gar nicht mir passieren, sondern als würde ich von oben auf uns herab sehen. Plötzlich kamen wir an einem Auto an. Es war schwarz und versteckt in der hintersten Ecke eines Parkplatzes geparkt. Jake hielt mir die Beifahrertür auf und ließ mich einsteigen. Ich setzte mich hinein und sah, wie er um den Wagen herum ging und schließlich auf dem Fahrersitz Platz nahm. Er startete den Motor und fuhr los. Erst jetzt schien er sich allmählich zu entspannen. Wir waren ihm entkommen.
Ich schaute zu Jake, aber ich konnte ihn noch immer nicht richtig sehen. Im Auto war es zu dunkel. Ich betrachtete seine gesamte Erscheinung, bis mein Blick schließlich an seiner Hand, welche auf dem Schaltknauf lag, hängen blieb. Am liebsten hätte ich ihn berührt, nur um mich zu vergewissern, dass das wirklich passierte und ich nicht gerade den Verstand verloren hatte.
Ich ließ die vergangenen Minuten noch einmal Revue passieren. Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Wange noch immer schmerzte. Ich fasste mir ins Gesicht und als ich meine Finger danach betrachtete, merkte ich, dass ich blutete. Klasse, er hatte wirklich alles gegeben..

Jake: "Geht es dir gut? Hat er dich verletzt?"

Ich zuckte zusammen, als seine Stimme die Stille durchschnitt. Dann atmete ich tief durch und schaffte es endlich, einen vernünftigen Satz herauszubringen.

"Ja.. ich denke es geht mir gut.. ich bin bloß.. etwas durcheinander.. Danke, dass du mich gerettet hast, Jake. Ich weiß nicht , wie es sonst ausgegangen wäre.. es tut mir so leid.."

Er schüttelte den Kopf, vermied es aber, mich direkt anzusehen.

Jake: "Du solltest wirklich aufhören, dich für alles zu entschuldigen, Tasha. Es war nicht deine Schuld"

Ich schaute auf meine Hände. Es war einfach dumm von mir gewesen, mich selbst in Gefahr zu bringen, nach allem was passiert war. Ich hätte nicht allein draußen herumspazieren sollen. Nach dem Angriff auf Jessy hätte man meinen können, ich hätte daraus gelernt. Trotzdem rechnete ich es Jake hoch an, dass er mir keine "Ich hab's dir ja gesagt"-Predigt hielt.

"Wo fahren wir eigentlich hin?"

Ich sah nun aus dem Fenster, konnte aber nicht genau ausmachen, wo wir uns befanden, dafür kannte ich mich in Duskwood noch nicht gut genug aus.

Jake: "Zum Motel. Du solltest dich dringend etwas ausruhen. Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich besorgt, dass du zu sehr unter Schock stehst, um zu merken, wie es dir wirklich geht"

Ich nickte gedankenverloren vor mich hin.

"Ja.. das denke ich auch.."

Danach sagte erstmal niemand mehr etwas, aber ich bemerkte, dass er immer wieder aus dem Augenwinkel zu mir rüber sah. Wie lange wir fuhren, konnte ich nicht genau sagen, dafür war ich zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Aber als der Wagen plötzlich anhielt, sah ich verwirrt auf. Das war definitiv nicht der Parkplatz vor dem Motel.

"Wo sind wir?"

Jake: "Ganz in der Nähe des Motels. Ich denke es wäre unklug meinen Wagen direkt davor abzustellen"

Ich nickte und machte mich daran auszusteigen. Jake war bereits ausgestiegen und schweigend machten wir uns auf den Weg zum Motel. Es lag schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite. Jake hatte sein Auto hinter einer alten, verlassenen Lagerhalle geparkt. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er mir meine Tasche ab, die ich noch immer bei mir trug. Ich hatte gar nicht mehr bemerkt, dass sie noch da war.

Als wir das Motel endlich erreichten, dachte ich, er würde sich jetzt von mir verabschieden und gehen, doch er blieb dicht an meiner Seite und folgte mir durch den Eingangsbereich. Ich kann nicht in Worte fassen, wie erleichtert ich darüber war, dass er, wenn auch nur für einen weiteren Augenblick, bei mir bleiben würde. Ich wusste, welches Risiko er mit jeder Sekunde, die er in Duskwood verbrachte, einging, doch ich war nicht bereit, ihn schon wieder zu verlieren.
Die Rezeption war gerade nicht besetzt, weshalb wir unbemerkt zu meinem Zimmer gehen konnte. Als ich versuchte die Tür zu öffnen, merkte ich wie sehr ich zitterte. Jake schien es auch zu bemerken, denn er nahm mir vorsichtig die Schlüsselkarte ab und öffnete die Tür. Er ließ mich eintreten und als ich hörte, wie sich die Tür hinter uns schloss, brachen bei mir alle Dämme. So fühlte es sich also an, wenn der Schock nachließ und man alle Emotionen auf einmal fühlte. Ich stand mitten im Zimmer und begann leise zu schluchzen. Tränen flossen über meine Wangen und mein Körper bebte. Ohne ein Wort zu sagen, kam Jake schnell auf mich zu und schloss mich in seine Arme. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust. Seine Wärme und Nähe zu spüren, tat unglaublich gut. Wie oft hatte ich mir genau das hier gewünscht? Jake bei mir, wie er mir nah war, mich in den Arm nahm und mir sagte, dass alles wieder gut werden würde. Jetzt war es soweit, aber dass es unter diesen Umständen passieren würde, hätte ich mir niemals ausmalen können.
Seine Hand streichelte beruhigend meinen Rücken entlang und das Gefühl bereitete mir eine Gänsehaut. Es war so ungewohnt und doch auf seltsame Weise vertraut, obwohl wir uns zuvor noch nie gesehen hatten, war es das Normalste auf der Welt, ihm so nah zu sein, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
Meine Hände lagen um seine Hüften und ich zog ihn so eng, wie es nur ging, an mich. Ich nahm seinen Duft war, sog ihn in mich auf und fühlte mich zum ersten Mal seit ich nach Duskwood gekommen war, sicher.
Eine ganze Weile standen wir so da, bis ich endlich aufhören konnte zu weinen und mich langsam wieder beruhigte. Wir lösten uns aus der Umarmung und ich wischte mir die Tränen weg. Dann hob langsam meinen Kopf. Und zum ersten Mal sah ich ihm direkt in die Augen.

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