Der Tragödie neunter Teil

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Es folgte eine unangenehme Stille und ich musste den Drang unterdrücken, einfach aufzustehen und wegzugehen.

Irgendwann, ich wunderte mich, dass es in der Zwischenzeit noch nicht Nacht geworden war, brach Nick das Schweigen. „Was ist deine Lieblingsfarbe?"

„Was?", ich sah ihn verwundert an.

„Deine ... deine Lieblingsfarbe", stammelte er und wurde rot. „Also, weil ich dachte, Smalltalk und so ..."

Seine unschuldige Art führte nur dazu, dass sich mein schlechtes Gewissen auf die Ausmaße eines ausgewachsenen Blauwals ausdehnte.

„Ja, klar", sagte ich schnell. „Meine Lieblingsfarbe ist Violett. Und deine?"

Er lächelte erleichtert. „Ich mag Grün."

Ich zwang mich, ein Lächeln aufzusetzen, vermutete jedoch, dass ich dabei eher aussah wie ein grinsender Schimpanse. Ich musste irgendwas sagen, damit wenigstens er nicht mehr nervös sein musste. „Sorry, das ist mein erstes Mal, dass ich mich mit jemandem auf diese Art verabredet habe. Ich weiß nicht wirklich, was ich jetzt machen soll."

Die Anspannung fiel augenblicklich von seinem Gesicht ab. „Geht mir genauso, keine Sorge."

Danke, dachte ich, sagte jedoch nichts, da ich nicht wusste, ob mein gelegentlich verräterischer Tonfall einen gewissen Sarkasmus unterdrücken könnte.

„Ich habe noch Öko-Hausaufgaben", sagte er nach einer weiteren kurzen Pause. Ich nickte langsam, während er in seinem Rucksack nach den benötigten Utensilien kramte.
Ich beobachtete ihn eine Weile, wie er irgendetwas auf seinem Collegeblock kritzelte. Mein Blick streifte über die aufgeschlagene Doppelseite seines Ökologiebuchs, auf der in einer Tabelle ein Haufen Gewässer und ihre zugehörigen pH-Werte aufgelistet waren.

Ich war eigentlich immer davon ausgegangen, dass der Ökologiekurs gar nicht zu Stande gekommen ist, da ich immer gedacht habe, es wäre einer dieser Alibikurse, die nur angeboten werden, um die Schule in einem guten Licht dastehen zu lassen, obwohl es eh niemand wählt, da es keinen Menschen interessieren würde. Doch Nicks geradezu interessierter Gesichtsausdruck lehrte mich eines Besseren.

Ich trommelte mit den Fingern leise auf der Tischplatte herum. War ich ein schlechter Mensch, nur weil ich ihn wegen eines gewählten Schulfachs für einen Nerd hielt? Vermutlich.

Nach geschlagenen zehn Minuten sah ich endlich ein, dass in der Gegend rumstarren wohl doch weniger produktiv ist, als ich gehofft hatte, und holte mein Notebook hervor, um endlich an meiner Charakteranalyse von Wilhelm Tell weiterzuarbeiten.

Noch während ich das Dokument öffnete, merkte ich, wie eine Welle der Langeweile mich überrollte. Mein faules Gehirn war wirklich grausam zu mir.
Ich beschloss, ein bisschen mit den Beinen zu schlenkern. Mein rechter Fuß traf auf einen Widerstand und ich hörte ein leises Flopp. Ich musste etwas umgestoßen haben.

Ich sah unter dem Tisch nach und bemerkte, dass es Nicks Rucksack war, der Opfer meiner unbeabsichtigten Attacke geworden war. Schnell bückte ich mich, um ihn wieder hinzustellen.

„Sorry." Nick hatte mittlerweile auch bemerkt, was geschehen war.

Ich schüttelte überrascht den Kopf. „Was? Nein! Das war doch meine Schuld."

Nick sah weg und zuckte mit den Schultern. „Trotzdem."

Nachdem ich die Tasche wieder aufrecht hingestellt hatte, viel mir ein kleiner Gegenstand auf, der während des Sturzes herausgefallen sein musste. Ich hob ihn auf und betrachtete ihn eingehend.

„Ist das eine Kassette?", fragte ich neugierig. Eine Erinnerung überkam mich, dass ich als Kind selbst mal eine Handvoll Kassetten besessen hatte, auf denen ich abends vor dem Einschlafen Hörspiele gehört hatte. Doch diese war nicht aus hellblauem Plastik und vorne war auch nicht der Titel einer Kindergeschichte aufgedruckt.

Nick wurde rot und nickte. „Ja, aber die gehört mir nicht."
Er wirkte, als wäre es ihm peinlich.

Schnell schüttelte ich den Kopf. „Nein, das ist voll cool. Retromäßig irgendwie."

„Wirklich?", er wirkte überrascht. Ich nickte. „Wo hast du die her?"

Es entstand ein kurzes Schweigen.

„Ich sollte die eigentlich gar nicht haben", sagte er schließlich. Ich legte die Stirn in Falten. „Du kannst sie behalten, wenn du willst."

„Ich dachte, sie gehört dir nicht?", fragte ich misstrauisch.

Das Rot seiner Wangen wurde noch einen Hauch dunkler. „Ja, naja, halb. Es ist kompliziert. Aber ich habe sie nicht gestohlen! Wirklich nicht!"

Das hätte ich auch wirklich nicht gedacht bei einem Jungen wie Nick.

„Sie wurde mir gegeben", fuhr er fort. „Also vermutlich gehört sie mir schon irgendwie, aber ich will sie nicht. Also wirklich, nimm sie."

Ich zuckte mit den Schultern und steckte die Kassette in meinen Rucksack. Ich würde sie mir zuhause genauer ansehen und dann danach entscheiden, ob es moralisch verwerflich wäre, sie zu behalten.

Ich warf einen Blick auf mein Handy und stellte fest, dass mein nächster Kurs in wenigen Minuten anfangen würde. Willy musste also ein weiteres Mal auf seine Charakteranalyse warten müssen.
Wir packten unsere Sachen zusammen.

„Was hast du jetzt?", fragte Nick. „Wenn du nichts dagegen hast, begleite ich dich zu deinem Raum."

Das war wirklich rührend. Ich musste schlucken. „Kunst bei Frau Oliph. Raum N204. Das ist wirklich lieb von dir, ich würde mich sehr freuen, wenn du mich auf dem Weg begleitest."

„Das ... das war eigentlich ein Witz. Ich bin auch in dem Kurs", stammelte Nick.

Oh fuck.

„Nick, das tut mir wirklich leid." Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt. Aber das Schlimmste war, dass ich mich auch jetzt noch nicht daran erinnern konnte, ihn je in dem Kurs gesehen zu haben.

„Ist schon okay."

Ich schulterte meinen Rucksack und wir machten uns schweigend nebeneinanderher auf den Weg zu den Kunstsälen.

Gerne hätte ich mich erneut bei ihm entschuldigt, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

In N204 angekommen setzte sich Nick an einen der Plätze vorne am Fenster und ich überlegte, ob er immer dort saß. Vermutlich schon.
Ich trottete allein weiter nach hinten zu meinem Stammplatz.

Mein Gewissen plagte mich noch ein Stück mehr, ich hoffte wirklich, dass ich Nick damit nicht allzu sehr verletzt hatte. Mein Blick ruhte auf ihm.

Kurz darauf drehte er sich um und unsere Augen trafen sich. Er lächelte mich an und winkte mir unauffällig zu.


Eventuell hatte es ihn doch nicht allzu sehr mitgenommen.

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt