Der Tragödie achtzehnter Teil

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Das restliche Wochenende verging ohne nennenswerte Ereignisse. Abgesehen natürlich von meiner spektakulären und schier unglaublichen Errungenschaft, dass ich endlich meine Charakteranalyse von Wilhelm Tell zu Ende brachte.
Und das lag selbstverständlich einzig und allein an meinem Fleiß und absolut nicht an dem Fakt, dass wir diese am Montag einreichen mussten.

Ich hatte am Sonntag zweimal versucht, Nick anzurufen, doch er war nicht drangegangen und so wartete ich am Morgen vor der ersten Stunde auf dem Schulhof auf ihn.

Nick tauchte jedoch erst zwei Minuten vor Unterrichtsbeginn am Eingang zum Schulhof auf. Ich lief ihm entgegen.

„Hey, Tammy", er lächelte, doch es war kein echtes Lächeln, sondern ein aufgesetztes.

„Hey." Sollte ich ihn wirklich fragen, oder es einfach ruhen lassen? Er schien schließlich offensichtlich nicht darüber reden zu wollen.

„Du hast jetzt Erdkunde, oder?", fragte ich stattdessen. Ein Hauch Verwunderung trat auf sein Gesicht. „Uhum."

„Na dann viel Spaß."

Er sah mich aus zusammen gekniffenen Augen an. „Du hast angerufen."

„Und du hast nicht abgenommen. Das Leben ist hart."

„Ich ...", fing er an, wurde jedoch von der Klingel unterbrochen.

„Bye", rief ich ihm zu, während ich mich schon umgedreht hatte, um zu den Chemielaboren zu laufen. Ich würde so oder so noch erfahren, was es mit der Kassette auf sich hat.


Dort angekommen wurde der Kurs bereits von einer motiviert aussehenden Frau Doktor Hansen erwartet. Motiviert. An einem Montagmorgen.

Als sich alle gesetzt hatten, lehnte sie sich an das Pult und blickte uns in erwartungsvoller Haltung an, als wäre sie der festen Überzeugung, dass wir alle mit nicht weniger Elan als sie in die Woche gestartet wären.

„Okay, Leute, wir nutzen die heutige Stunde nochmal, um intensiv für die schriftliche Überprüfung nächste Woche zu üben. Klingt das gut?"

Nein.

Die einzige Antwort, die sie erhielt, war hier und da ein leises Gemurmel.

„Ach kommt schon, Leute. Ich mach das hier schließlich für euch. Ich weiß, ihr glaubt mir das vielleicht nicht, aber ich kann den Stoff, den wir hier durchgehen, schon."

Haha.

Frau Hansen forderte uns dazu auf, unsere Bücher aufzuschlagen und der Kurs kam dieser Bitte in schleichendem Tempo nach.

Mir wurde klar, dass auch obwohl sich meine Stufe an diesem Montag noch verkaterter verhielt als sonst, ich persönlich mich eigentlich anstrengen sollte in Anbetracht des Kepler-Turniers.

Mit einem leisen Seufzen riss ich mich zusammen und meldete mich sogar freiwillig dafür, den elendig langen Text vorzulesen.

Die restliche Stunde zwang ich mich trotz wiederholt auftretender Anfälle von Müdigkeit aufzupassen und musste mir, als der Unterricht rum war, sogar eingestehen, dass ich das eine oder andere nun wirklich besser verstand.


Unser Wirtschaftslehrer ließ uns in der sechsten Stunde früher gehen, weshalb ich genug Zeit hatte, zu dem kleinen Kiosk nahe der Schule zu laufen, mir ein Sandwich zu bestellen und trotzdem noch pünktlich zum Ende der Stunde wieder auf dem Schulhof zu sein, um auf Nick zu warten.

Während ich an einem der Tische saß, wickelte ich das Brot aus dem Papier und biss genüsslich rein.

Keine zwanzig Sekunden später sah ich ihn auch schon auf mich zukommen.

„Tammy?", er sah mich verwundert an.

„Ja?", fragte ich mit vollem Mund und sah ihn dabei nicht minder verwundert an.

„Wartest du noch auf wen?"

„Äh." Ich schluckte endlich den Bissen, den ich noch im Mund hatte, herunter. „Auf dich?"

Er runzelte die Stirn.
„Du weißt, dass der Nachmittagsunterricht heute wegen irgend so einer Lehrerkonferenz ausfällt, oder?", fragte er mit Blick auf mein Sandwich.

Ich schüttelte langsam den Kopf.

Er grinst. „Wow."

„Aber hey, Unterrichtsausfall kommt mir immer gelegen!", versuchte ich zu überspielen, wie sehr es mich wurmte, dass ich es wirklich nicht mitbekommen hatte.

Nick grinste noch ein Stück breiter.
Dann jedoch schlug seine Miene von einer Sekunde zur nächsten komplett um und ein dunkler Schatten legte sich über sein Gesicht. War ihm die Kassetten-Sache wieder eingefallen?

„Ich habe deine Nachricht nicht beantwortet", bestätigte er meinen Verdacht.

Ich schwieg, in der Hoffnung, es würde ihn zum Weiterreden zwingen.

„Und das werde ich auch nicht."

Verdammt.

„Ich wollte dir die Kassette geben, weil ich dachte, vielleicht gefällt dir die Musik. Bitte frag nicht nach ihrer Geschichte."

Aus seinem Gesichtsausdruck ging hervor, wie ernst er es meinte, also nickte ich. „Okay."

Augenblicklich verschwanden die Schatten wieder und er strahlte mich fröhlich an, als ob nie etwas gewesen wäre.

„Wenn du nicht wusstest, dass der Nachmittagsunterricht ausfällst, hast du doch bestimmt noch nichts vor, oder?"

Ich schüttelte den Kopf.

„Willst du mit in die Stadt runter kommen?", fragte er.

„Klar." Ich entschied mich dafür, die Kassette nicht zwischen mich und Nick kommen zu lassen. Am Ende war es ihm vielleicht einfach nur peinlich, dass er auf Pop-Musik stand.

„Cool! Mae wartet bestimmt schon."

„Was?", ich sah ihn entgeistert an.

Er wirkte verunsichert. „Ist das ein Problem? Wir gehen häufig zusammen in die Stadt, ist einfach praktischer wegen des Heimwegs."

„Nein", sagte ich schnell. „Natürlich ist das kein Problem."

Nick führte mich eine Straße runter und tatsächlich sah ich uns aus der Ferne bereits eine Gestalt mit braun-grünen Haaren entgegenkommen.

Panik überkam mich und ich versuchte krampfhaft, meinen Herzschlag zu beruhigen.

Als Mae bei uns ankam, grinste sie, als sie mich sah. „Ach hey, Tamms. Geht es dir etwa gut?"

Nick schien verwirrt, hinterfragte es jedoch auch nicht. Ich grinste sie debil an, während ich versuchte, keinen Anfall zu bekommen, da sie mir gerade einen Spitznamen gegeben hatte.

„Wollen wir?", fragte Nick und wir liefen los in Richtung Stadt.

Nach ein paar Minuten hatte mein Puls sich wieder normalisiert und ich traute es mir zu, den Mund aufzumachen, ohne mich augenblicklich auf den Bürgersteig zu übergeben.

„Du hast heute auch frei?", fragte ich. Mae nickte. „Jeden Montagnachmittag."

„Glückspilz."

Sie grinste. „Kann man wohl sagen."
Ihr Blick fiel auf das Sandwich und mir fiel jetzt erst wieder auf, dass ich das angebissene Stück Brot immer noch in der Hand hielt. „Frag einfach nicht ..."

Sie zog eine Augenbraue hoch, beließ es jedoch dabei.

Ich beschloss, dass ich vorerst genug kommuniziert hatte und hörte stattdessen den Geschwistern zu, wie sie sich über irgendeine neue Serie zu unterhielten, die ich nicht gesehen hatte.

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt