Während wir aufstanden und unsere Taschen ins Innere des Hauses trugen, zwang ich mich, zu versuchen, so normal wie möglich zu wirken. Auf keinen Fall wollte ich, dass Mae oder Nick mitbekamen, dass mein Puls gerade so tat, als würde ich die letzten Kilometer eines Marathons rennen.
Ich war mir mittlerweile sicher, dass mein Schicksal mich hassen musste, doch wenigstens machte es mir ein kleines Zugeständnis, indem Nick einen minutenlangen Monolog führte, während die beiden mir das Haus zeigten, wodurch nicht auffiel, dass meine Gedanken ganz woanders waren.
Die Wände von Caro und Pauls Ferienhaus wurden mit schlichten Tapeten geschmückt, die in Kombination mit den alten Holzmöbeln dem Ganzen einen gemütlichen, wenn auch irgendwie altmodischen Touch verliehen.
Das Highlight des Wohnzimmers war ein einmaleineinhalb Meter großer Kamin, der ein gutes Stück der linken Wand einnahm. Daneben führte eine geschwungene Holztreppe ins Obergeschoss, auf der ich jetzt stand und darauf wartete, dass Nick vor mir weiterging.Stattdessen deutete er auf eins der Bilder an der Wand. „Kennst du das? Das ist Das Nachtcafé von Vincent van Gogh."
„Es ist schön", zwang ich mich zu antworten. Nick schien das als Antwort zu genügen und machte sich endlich daran, die letzten paar Stufen hochzugehen.
Oben angekommen durchquerte er den gesamten Flur und wandte sich dann der letzten Tür links zu. Ich machte Anstalten, ihm zum Ende des Flurs zu folgen, doch ich wurde von einer zaghaften Berührung zurückgehalten.
Mein Atem stockte.
Ganz langsam wanderte mein Blick runter zu meiner Hand. Maes Finger ruhten fast unmerklich auf meinem Handgelenk. Ein warmer Schauer durchlief meinen Arm.
In meinem Kopf drängte sich die Erinnerung an den Abend nach dem Kinobesuch, als ich mit Nick essen war. Der Moment, als er über meine Hand gestrichen hatte. Der Moment, in dem mir panisch bewusst geworden war wurde, dass ich absolut nichts dabei empfand.
Jetzt wusste ich, wie es sich hätte anfühlen sollen.
Mae zog ihre Hand weg und deutete mit einem Nicken auf die Tür direkt rechts neben uns. „Unser Zimmer ist hier."
In der Sekunde, in der sich unsere Finger nicht länger berührten, war das angenehme Prickeln, das sich in meinem ganzen rechten Arm ausgebreitet hatte, augenblicklich verschwunden.
Perplex starrte ich weiterhin auf meine Hand. Als Mae jedoch die Tür zu dem Raum öffnete und ihn betrat, riss ich mich zusammen und folgte ihr.
Sie ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und drehte sich zu mir um. Sie musterte mich von oben bis unten und ich musste den Drang unterdrücken, direkt wieder rückwärts aus dem Zimmer zu fliehen.
„Tammy, wenn du dir kein Bett mit mir teilen willst, verstehe ich das. Es gibt wirklich andere Möglichkeiten", sagte sie mit durchdringender Stimme. Dennoch hatte ich das Gefühl, ein leichtes Zittern herauszuhören. Aber vielleicht täuschte ich mich auch.
Egal. Ich schüttelte vehement den Kopf. Denn auch wenn ich vermutlich in den nächsten zwei Nächten absolut keinen Schlaf finden würde, würde ich jetzt ganz bestimmt keinen Rückzieher mehr machen.
„Nein,", sagte ich bestimmt, durchquerte den Raum und ließ meine Tasche auf die eine Seite des Bettes fallen. Dann legte ich ihre Sporttasche auf die andere Betthälfte.
Als ich mich umdrehte, trafen sich unsere Blicke und für ein paar Sekunden schauten wir uns einfach nur in die Augen.
Sie weiß es! Schrie irgendeine dämliche kleine Stimme in meinem Kopf. Doch ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass sie, wenn sie es wissen würde, nicht so felsenfest davon überzeugt gewesen wäre, ich würde nur nicht hier schlafen wollen, da es mir unangenehm sei, mir ein Bett mit einer Lesbe zu teilen.
Ich versuchte mich abzuwenden, doch ich konnte mich nicht dazu durchringen, den Blick von ihren Augen zu nehmen.
Jedes Mal faszinierten mich diese Augen aufs Neue.In ihrem Blick lag etwas, das ich nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte, und ich hatte das Gefühl, ich würde Gefahr laufen, in dem Grün ihrer Augen ertrinken.
Ich wollte neben ihr einschlafen und ich wollte, dass sie neben mir lag, wenn ich aufwachte. Ich wollte, dass das Wochenende nicht nach verdammten zweieinhalb Tagen vorbei war. Und vor allem wollte ich die Möglichkeit haben, all diese Gefühle empfinden zu können, alle diese Gedanken haben zu können, ohne dass mich jedes Mal die Schuldgefühle gegenüber Nick überkamen und mir eins in die Fresse schlugen.
Doch ich wusste, dass das nicht ging.
„Tammy", sagte sie leise.
„Okay", flüsterte ich, ohne selbst zu wissen, was ich damit meinte.
„Versprich es mir."
Ich nickte beinahe unmerklich, doch sie schien es gesehen zu haben.
Ruckartig wandte sie sich ab und stand nun mit dem Gesicht zu dem großen gläsernen Fenster, das, wie mir jetzt erst auffiel, eigentlich ein Durchgang zu einem schmalen Balkon war. „Nick wartet bestimmt schon."
Da sie nun mit dem Rücken zu mir stand war diesmal ich diejenige, die sie betrachtete. Verwundert fiel mir auf, dass sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte.
„Yeah. Kann gut sein."
Als Mae sich wieder umdrehte trafen sich unsere Blicke erneut, doch diesmal wirkten ihre Augen anders.
Kalt wäre nicht das richtige Wort, um es zu beschreiben. Eher distanziert.
Schweigend verließen wir das Zimmer und machten uns auf den Weg zu Nick.
Ich wusste, dass da etwas sein musste, etwas Unausgesprochenes, das zwischen uns hing. Ich hätte jedoch nicht sagen können, was es war.
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Let me get this Straight ✔
Teen FictionTammy ist straight. Da ist sie sich eigentlich ziemlich sicher. Blöd nur, dass ihr das keiner mehr glaubt. Als sich ihr dann die Gelegenheit bietet, eine Scheinbeziehung mit einem Jungen aus ihrem Jahrgang anzufangen, und nachdem sie intensiv alle V...