Der Tragödie achtunddreißigster Teil

646 55 1
                                    

Als ich am Montagmorgen in die Schule kam, war ich todmüde.

Der Zug war um neun Uhr angekommen, doch als ich im Bett lag, weigerte sich mein Körper partout einzuschlafen. Zu viel war passiert und mein verdammtes Hirn hatte einfach nicht die Klappe halten wollen.

Folglich war ich ein Schatten meiner selbst, als ich zur ersten Stunde schlurfte.

Mehr tot als wach saß ich auf meinem Platz im Chemielabor und wartete auf das Eintreffen von Frau Hansen. Sehr zu meinem Bedauern ließ sie nicht lange auf sich warten.

„Guten Morgen!", begrüßte sie uns fröhlich wie immer und fuckte mich damit in Anbetracht meiner momentanen Situation noch ein wenig mehr ab als sonst.

Frau Hansen schien dies jedoch nicht sonderlich zu kümmern. Oder sie sah mich einfach nicht an. Das konnte ich nicht ausschließen, da ich zu sehr damit beschäftigt war, herauszufinden, zu wie viel Prozent ich die Augen schließen und dabei immer noch wach aussehen konnte.

„Ich hoffe, ihr habt euch alle gut vorbereitet auf den Test heute."

Bitte was??

Ich fuhr hoch und jegliche Müdigkeit war augenblicklich aus meinen Adern verschwunden.
Das konnte doch nicht sein! Das war doch erst nächste Woche oder nicht??

Ich durchkramte meine Erinnerungen fieberhaft und mir wurde schlagartig bewusst, dass Frau Hansen recht hatte. Der Test war für heute angekündigt gewesen.

Der Test, der wichtig war für die Aufnahme zum Kepler-Turnier, der Test, den ich nicht nur schreiben würde, ohne auch nur eine Sekunde dafür gelernt zu haben, sondern auch noch an einem Tag, an dem ich mich bis vor wenigen Augenblicken gefühlt hatte, als würde ich jeden Moment in einen tausendjährigen Schlaf sinken.

Hätte man Dornröschen mit einem Chemietest überrascht, wäre sie sicher ebenfalls direkt hochgeschreckt und der ganze Handlungsstrang mit diesem komischen Prinzen, der eine random Quasi-Leiche im Wald küsst, wäre unnötig geworden.
In meinen Augen eine eindeutige Verbesserung für ihre Story. Aber eben nicht für meine! Also was sollte das mit diesem Test??

Panik brach in mir aus und ich spürte, wie die Innenflächen meiner Hände langsam feucht wurden.

Verdammte, verdammte Kacke.

Hektisch sah ich mich um, sah jedoch einzig in nervöse oder desinteressierte Gesichter. Niemand außer mir Vollidiot war dumm genug gewesen, den verfluchten Test zu vergessen.

Frau Hansen fing an, die Zettel auszuteilen, während ich immer noch auf meinem Platz saß und Panik schob. Gab es irgendeinen Ausweg aus dieser Situation? Konnte ich einfach sagen, dass mir schlecht war?
Aber würde sie mich dann nicht ermutigen und mir sagen, das sei nur die Nervosität?

Und noch viel wichtiger: Verdiente ich es überhaupt, diesen Test nicht zu vergeigen?

Ich hatte das ganze Wochenende mit irgendwelchem Drama verbracht, an dem ich zu einhundert Prozent schuld war, und hatte nicht mal eine einzige Gehirnzelle dafür genutzt, mich an den mehrmals angekündigten Chemietest zu erinnern.

Karma war gekommen, um mich zu holen.

Nicht, dass es reichen würde für das, was ich getan hatte, aber es war wenigstens eine Chance, etwas Buße zu tun oder nicht?

Frau Hansen war mittlerweile an meinem Tisch angekommen. Sie lächelte mir aufmunternd zu. „Na dann zeig mir mal, dass wir dich am Samstag beim Kepler-Turnier gebrauchen können, Themis!"

Sie legte das Blattpapier vor mir ab und ich spürte deutlich, wie sich meine Kehle zuschnürte. Nicht nur würde ich den Test verhauen, ich würde auch noch Frau Hansen enttäuschen und hochkantig aus dem Schulteam fliegen, bevor ich überhaupt richtig drin war.

Mit zitternden Fingern drehte ich das Blatt um und las die erste Aufgabenstellung durch. Mein Gehirn fühlte sich an wie ein Haufen Würmer, die durch die Gegend wuselten und mich daran hinderten, einen einzigen Gedanken zu fassen. Die Wörter verschwammen vor meinen Augen und meine Hände verkrampften sich um das Blatt.

Ich brauchte mehrere Minuten, bis ich mich beruhigt hatte und mich einigermaßen auf die Fragen vor mir konzentrieren konnte.

Es machte alles mehr oder weniger Sinn und ich hätte es an einem anderen Tag vermutlich auch allein durch das Wissen aus dem Unterricht recht gut hinbekommen, doch heute war kein anderer Tag. Heute war heute.

Und so gab ich, nachdem unsere Zeit abgelaufen war, einen Testbogen zurück, auf dem nicht nur mehrere Aufgaben ausgelassen worden waren, sondern auch der Rest nur mit verdammt viel Fantasie irgendeine Art von Sinn ergab.

Ich kehrte zu meinem Platz zurück, warf den Stift, mit dem ich bis vor wenigen Sekunden noch hektisch irgendwelchen Unsinn auf den Testbogen gekritzelt hatte, in meinen Rucksack und wollte mich auf den Weg zum Ausgang machen.
Doch ich wurde aufgehalten.

„Na, wie lief's?", erkundigte sich die blonde Lehrerin, dessen Namen ich vergessen hatte. (Okay, na gut, ihr habt recht, jetzt simuliere ich.)

Ich starrte mit glasigen Augen zurück.

„Themis? Ist alles okay?"

Ich starrte immer noch. „Ja, danke, mir geht es gut."

Sie musterte mich mit einem besorgten Blick.

„Es tut mir leid", flüsterte ich.

Sie runzelte die Stirn und griff nach dem Stapel an Testbögen, die sich auf ihrem Pult angesammelt hatten. Mit gekonnten Griffen blätterte sie ihn durch und zog dann das Blatt heraus, das ich als meins wiedererkannte. Was auch sonst.

Es dauerte ein paar quälend lange Sekunden, in denen ihre Augen das beschriebene Papier überflogen, bis sie den Blick wieder von dem Zettel hob und sie mich noch eine Spur besorgter musterte.

„Was ist denn da passiert?", ihre Stimme klang warm und eher so, als würde sie sich ernsthaft um mich sorgen, anstatt pissed zu sein, weil ich offensichtlich den Test verkackt hatte.
Aber das verdiente ich nicht.

Frau Hansen schien ein Gedanke zu kommen und sie hob erschrocken eine Hand vor den Mund. „Oh Gott, ist es etwa wegen des Turniers? Hast du dir so einen Stress gemacht, dass du ein Blackout bekommen hast?"

Da war sie, die perfekte Ausrede. Wie auf einem Silbertablett serviert.

Aber wenn ich ein besserer Mensch werden wollte, wenn ich es schaffen wollte, alles wieder gutzumachen, musste ich zuallererst einmal damit anfangen, von jetzt an keine neuen Lügen zu erfinden.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein."

Sie sah mich überrascht an. „Was war denn dann los?"

„Ich habe einfach nicht gelernt. Das war los. Hatte den Test vergessen. Sorry."

Frau Hansen sah mich etwas überrumpelt an. Wobei, vermutlich war etwas nicht das richtige Wort. Eher grenzenlos.
Frau Hansen sah mich grenzenlos überrumpelt an.

Für genau viereinhalb Sekunden hielt ich ihrem Blickkontakt stand, dann drehte ich mich um und stolperte halb flüchtend, halb immer noch benommen aus dem Klassenraum.
Den verwirrten Gesichtsausdruck meiner Chemielehrerin weiterhin vor Augen.

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt