Wie prophezeit hatte Caro absolut kein Problem damit, wenn ich am Wochenende mitkommen würde und so stand ich vier Tage später mit gepackter Reisetasche am Bahnhof und wartete darauf, dass Nick und Mae auftauchen würden.
Da alle Bänke bereits besetzt gewesen waren, als ich angekommen war, stand ich nun etwas verloren in der Gegend rum und betrachtete das rege Treiben, das auf dem Wartebereich zwischen den Gleisen herrschte.
Ich musste geschlagene sieben Minuten und vierunddreißig Sekunden (eine grobe Schätzung) darauf warten, dass irgendein Zug in den Bahnhof einfuhr und sich daraufhin einige der Wartenden von ihren Sitzplätzen erhoben. Schnell ließ ich mich auf die nächstbeste Bank fallen.
Neben mir saß ein Typ mittezwanzig mit braunem Bart und langem braunem Haar, das aussahen, als hätten sie noch nie in seinem Leben Bekanntschaft mit einem Kamm gemacht. Er hielt mir einen Plastikbecher mit rosafarbenem Inhalt unter die Nase. „Heidelbeerjoghurt?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein danke", lehnte ich leise ab und versuchte, mir dabei nicht anmerken zu lassen, wie unwohl ich mich fühlte.
Der Mann zuckte mit den Schultern und widmete sich stattdessen wieder seiner Mahlzeit.
Wenn Nick und Mae in den nächsten zwei Minuten nicht auftauchten, würden sie unseren Zug verpassen.
Noch während ich das dachte, sah ich die beiden auf den Wartebereich zwischen den Schienen treten. Als sie mich erkannten, winkte Nick mir zu; Mae grinste. Dann machten sie sich auf den Weg in meine Richtung.
„Hey, Tamms, was geht ab?" Mae ließ ihre schwarze Sporttasche, an der mindestens ein Dutzend Buttons befestigt waren, auf den Boden vor der Bank fallen, auf der ich immer noch saß. Ich nutzte die Gelegenheit, um aufzustehen, und Nick umarmte mich. „Hey."
Nachdem er mich wieder losgelassen hatte, machte auch Mae Anstalten, mich in den Arm zu nehmen. Ich hatte irgendwann Mal gelesen, dass das Herz einer Maus 400mal die Minute schlägt und ich wette, meins schlug gerade schneller.
Dennoch ließ ich es geschehen.„Ihr seid ganz schön spät dran", merkte ich an, nachdem sie mich wieder losgelassen und mein Puls zu Werten zurückgekehrt war, die nicht rekordverdächtig waren.
Mae verdrehte die Augen. „Wir sind hier in Deutschland. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass irgendein Zug jemals pünktlich kommt."
Ich hätte gerne etwas schlagfertiges erwidert, doch blöderweise weigerte sich mein Gehirn, sich irgendeinen guten Konter einfallen zu lassen.
Mae ließ sich auf den nun freien Platz auf der Bank fallen, auf dem ich bis vorhin noch gesessen hatte.
Sogleich hielt auch ihr der junge Mann seinen Einmalbecher unter die Nase. „Heidelbeerjoghurt?"Mae sah ihn etwas perplex an.
„Echt voll nett von Ihnen, aber ich habe heut schon gefrühstückt. Vielleicht ein andern Mal."Der Mann wand sich erneut an und betrachtete mit leerem Blick die einfahrenden Züge. Währenddessen sah uns Mae mit in Falten gelegter Stirn und einem Ausdruck in den Augen an, der Was war das denn? zu fragen schien.
Ich unterdrückte ein Lächeln.Nick deutete auf einen der Züge. „Ich glaube, das ist unserer!"
Mae warf einen Blick auf ihr Handy. „Der Zug ... er ist pünktlich." Sie sah mich mit einem Ausdruck schierer Unfassbarkeit an. Ich warf ihr einen triumphierenden Blick zu. „Tja."
Wir überquerten das Gleis und drängten uns mit einem dutzend anderer Menschen durch eine der automatischen Türen in den Innenraum des rot-weißen Zugs. Es war keiner dieser luxuriösen Züge, in denen jede Gruppe ein eigenes Abteil mit Tür und allem hatte, und so betrachteten wir es schon als großes Glück, vier leere Plätze, die um einen kleinen Tisch angeordnet waren, zu finden, nachdem wir den halben Zug durchsucht hatten.
Ich rutschte durch auf den Fensterplatz und Nick setzte sich neben mich. Auf der Glasscheibe konnte ich zwei kleine Handabdrucke erkennen, die aussahen, als hätte hier vor nicht allzu langer Zeit ein Kind gesessen und fasziniert die vorbeiziehende Landschaft beobachtet.
Jetzt, wo der Zug stillstand, war jedoch das Einzige, was ich sah, der Bahnhof. Mir fiel die Bank von vorhin ins Auge, auf der der Mann mit dem Bart und den langen Haaren immer noch saß. Jetzt jedoch saß ein zweiter Mann neben ihm, der ungefähr im gleichen Alter zu sein schien, und die beiden teilten sich tatsächlich den Inhalt des Joghurtbechers.
Ich machte die Stiefgeschwister darauf aufmerksam. Nick lachte und Mae grinste mich begeistert an. Sie hatte ihre Tasche in der Zwischenzeit auf den Tisch zwischen uns fallen gelassen, was es mir nun möglich machte, die Buttons aus der Nähe zu betrachten.
Logos von Bands, die ich nicht kannte; Andenken an Städten, in denen sie gewesen sein musste, und einer, der das Wappentier des Hauses Slytherin zeigte. Am Schulterriemen befand sich ein Button mit der Pride Flag.
Nick hatte mir den Namen des Orts genannt, an der das Ferienhaus stand, doch ich hatte ihn wieder vergessen. Irgendwas mit D, glaube ich.
Auch hatte er mir erzählt, dass zu der Familie von Maes Tante Carolin neben dieser noch ihr Ehemann Paul und ein vierjähriger Junge namens Nils gehörten, und dass, wenn er auch biologisch gesehen nicht mit diesen verwandt ist, er sie schon fast sein ganzes Leben lang kannte, da seine Mutter und Maes Vater geheiratet hatten, kurz nachdem er drei geworden war.Ich hatte nicht gewusst, dass Mae und Nick sich schon so lange kannten, hatte aufgrund ihres Verhaltens allerdings bereits die Vermutung, dass es nicht unwahrscheinlich war, dass sie zusammen aufgewachsen sind.
Bei der Frage, warum sie nicht auf die gleiche Schule gingen, hatte Nick bloß mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass ihnen schlichtweg unterschiedliche Schulen besser gefallen hätten.
Nick öffnete seinen Rucksack und zog einen Switch hervor. Er reichte mir einen der Kontroller. „Mario Kart?"
Ich nickte und nahm ihn entgegen.Mae verdrehte die Augen. „Kinder", kommentierte sie und zog ein Buch aus ihrer Tasche.
Ich spürte, dass mein Gesicht von einem leichten Rosa überzogen wurde, was Mae zum Lachen brachte.Nick warf ihr einen bösen Blick zu. „Tu nicht so. Vermutlich liest du da Twilight."
„Zwölf! Ich warf zwölf, als ich meine Twilight-Phase hatte, du Depp!"
„Au. Tritt mich nicht!"
Lautlos lachend beobachtete ich die beiden. Während zwischen den Geschwistern unter dem Tisch ein Trittkampf ausbrach, nahm ich unbemerkt Maes Buch in die Hand, das sie auf die Platte gelegt hatte.
Aimée und Jaguar – Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943 lautete der Titel. Auf dem Cover waren zwei Frauen zu sehen.
Ich notierte den Namen des Buches auf meiner imaginären Leseliste, bevor ich es zurück auf seinen Platz legte.
Die beiden hatten mittlerweile aufgehört, sich zu streiten und sahen mich nun beide an. Ertappt blickte ich zurück.
„Ts, Bücherdiebin", kommentierte Mae.
„Mich hat nur interessiert, was du so liest", versuchte ich mich zu rechtfertigen.
„Und mich hat nur interessiert, was wohl der Code des Zahlenschlosses von dem fremden Fahrrad war", konterte sie.
Schnell wandte ich den Blick ab, bevor sie sehen konnte, dass ich zum zweiten Mal an diesem Tag rot wurde.
„Hey, ist schon okay, dir muss nicht immer alles so schnell peinlich sein", versuchte sie mich aufzumuntern, erreichte damit jedoch einzig und allein, dass mir jetzt auch noch peinlich war, dass es mir peinlich war.
Eventuell war es doch nicht die beste Idee gewesen, zu einem Ausflug mit Mae zuzusagen.
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Let me get this Straight ✔
Teen FictionTammy ist straight. Da ist sie sich eigentlich ziemlich sicher. Blöd nur, dass ihr das keiner mehr glaubt. Als sich ihr dann die Gelegenheit bietet, eine Scheinbeziehung mit einem Jungen aus ihrem Jahrgang anzufangen, und nachdem sie intensiv alle V...