Der Tragödie achtundvierzigster Teil

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Kurz erwartete ich, dass Mae etwas zu Nicks Verteidigung sagen würde, doch aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie ihn stattdessen fassungslos anstarrte. Ich musste schlucken.

„Aber wieso hast du es dann behauptet?", fragte ich leise.

„Ich habe gedacht, es würde meine Chancen erhöhen."

Ich brauchte einen Moment, bis mir auffiel, dass das so nicht ganz passte.

„Nein, hast du nicht. Du hast am Anfang gedacht, ich sei lesbisch. Du bist damals überhaupt nur zu mir gekommen und hast mir deine Gefühle gestanden, weil du geglaubt hast, du hättest überhaupt keine Chancen."

Nicks Gesichtsausdruck spiegelte gut sichtbar wider, dass er sich ertappt fühlte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als Mae ihre Fassung zurückgewann. „Was ist eigentlich falsch mit dir, dass du jetzt ernsthaft noch versuchst, meinen Bruder als den Bösen darzustellen, nur weil er etwas übertrieben hat, wie lange er dich schon mochte? Nach allem was du ihm angetan hast, Themis!"

Es sollte nicht so weh tun, sie meinen vollen Namen benutzen zu hören.

Doch Mae war noch nicht fertig. „Ist dir vielleicht mal in den Sinn gekommen, dass er das gesagt hat, damit du dich gut fühlst? Wie wenn man jemandem ein Kompliment für ein Kleidungsstück macht, das man eigentlich absolut nicht schön findet?"

Ich schwieg. Ich schwieg und starrte Mae an. Das war alles, was ich tun konnte.

„Und ich weiß nicht, was du in den letzten Tagen geraucht hast, dass du auf die beschissene Idee gekommen bist, uns einfach aus deinem Leben zu streichen, aber –" Sie beendete ihren Satz nicht und ich sah, dass ihre Unterlippe anfing zu zittern.

Uns. Uns aus meinem Leben zu streichen.

Nick legte seiner Schwester eine Hand auf die Schulter. „Es ist okay, Mae. Ich kann ihr erklären, warum ich das behauptet habe, wenn sie unbedingt will."

Der unbekümmerte Ton, in dem er dies sagte, ließ mich meine Fäuste zusammenballen, und auch Juni neben mir fühlte sich wohl von seinen Worten getriggert, denn sie verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas Saures gebissen. „Auf einmal sind ihm wohl doch noch Eier gewachsen. Gut für dich, du wirst nicht immer deine Kampflesbenschwester dabeihaben, um dich zu verteidigen."

Ich zuckte zusammen. Während ich mich in Zeitlupe zu ihr umdrehte, fühlte ich mich, als hätte sie mir mit voller Wucht mitten ins Gesicht geschlagen.

„Juni, was ...", stammelte ich. Der Rest der Anwesenden schien nicht minder geschockt zu sein.

Junis Gesicht schien Feuer zu fangen, so rot wurde sie. „Ich wollte nicht ..."

„Aber du hast." Mae sah sie mit totem Blick an. In dem Schein der Lichterkette konnte ich sehen, dass ihr eine einzelne Träne die Wange runterlief. Was hätte ich dafür gegeben, sie jetzt umarmen zu können, ihr mit dem Daumen über die Wange streichen zu können, um die Träne wegzuwischen.

Stattdessen hob ich meine Hand zu meinem eigenen Gesicht. Ich realisierte, dass ich ebenfalls weinte. Ich weinte, weil mir klar geworden war, dass ich sie alle verloren hatte. Nick, den schüchternen und gutherzigen Jungen. Mae, die ich immer noch mit jeder Zelle meines Körpers liebte. Und Juni, meine beste Freundin.

Ich schaffte es, den Blick von Junis immer noch vor Schamesröte glühendem Gesicht zu lösen. Wie konnte ein Mensch wie sie in nur einem einzigen Augenblick ihre gesamte Schönheit verlieren?

Schließlich war es Nick, der das Schweigen brach. „Bruh."

Ich muss ehrlich sein, ich habe seinen Kommentar zwar als unangebracht, aber auch irgendwie als passend empfunden.

Meine Augen fanden unwillentlich ihren Weg zurück zu Mae und unsere Blicke trafen sich. Und für einen Moment schien es, als könnte ich wieder in dem Grün ihrer Augen lesen, für eine Sekunde bestand die gleiche Verbindung zwischen uns wie damals bei den Leutnants.

Ich bin lesbisch.

„Es tut mir leid", durchbrach Juni die Stille, doch niemand ging auf ihre Worte ein.

Stattdessen drücke Nick die Schulter seiner Schwester noch ein wenig stärker und sah dann mich an. Ich zwang mich, meinen Blick von Mae loszureißen und erwiderte seinen Blickkontakt. Er fing an zu erzählen.

„Nein, Tammy, ich habe nie geglaubt, dass du lesbisch bist."

Das traf mich unvorbereitet. „Aber Tristan ..."

Nick verdrehte die Augen. „Ich bitte dich, jeder, der auch nur einen winzigen Funken Verstand übrighat, weiß, dass Tristan alles behaupten würde, wenn es irgendeinen Vorteil für ihn hätte. Ich habe direkt gemerkt, dass du nicht wie die Mädchen bist, die Mae mit nach Hause bringt. Ich wusste, dass du straight bist, und ich habe gehört, was die Idioten aus unserem Jahrgang so von sich gegeben haben."

Ich stand kurz davor, einfach zusammenzubrechen. Doch Nick sprach ruhig weiter.

„Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe, aber ich kann nicht behaupten, dass ich es nicht nochmal tun würde. Es ist schließlich nicht so, als wärst du mit mir aus einem anderen Grund zusammen gewesen, als um allen zu beweisen, dass du hetero bist."

Ich starrte ihn mit leicht geöffnetem Mund an. „Du hast es die ganze Zeit gewusst?"

Nick hob einen Mundwinkel an. „Nur weil ich ein Looser bin, heißt das nicht, dass ich keine Menschenkenntnis habe."

Ich schüttelte den Kopf. „Du lügst. Du bist nicht so berechnend."

Nick war immer der Gutherzige gewesen. Ich hatte ihn ausgenutzt und nicht andersherum.

„Du lügst", wiederholte ich und glaubte dabei fest an das, was ich sagte. „Das hättest du niemals so gut verstecken können."

Das war der Moment, an dem Nick zusammenbrach. Er schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und seine Stimme klang gedämpft, als er endlich weitersprach.

„Doch, Tammy. Zumindest für den Anfang. Ich war so nervös, aber ich wollte endlich auch das, was Mae hatte. Ich wollte endlich auch erfahren, wie es sich anfühlt, jemandem so wichtig zu sein. Wie es sich anfühlt, jemanden zu küssen. Tammy, ich habe noch nie in meinem Leben jemanden geküsst!
Aber du hast recht. Ich musste nicht lange schauspielern, du hast keine vierundzwanzig Stunden gebraucht, um mir den Kopf zu verdrehen. Ich war der, der dich verstanden hat während alle Gerüchte über dich in Umlauf gebracht haben. Ich konnte es dir nicht sagen, aber ich habe dich verstanden, Tammy."

Er schien alles gesagt zu haben, was er zu sagen hatte und ich für einen Moment schien die Zeit um uns herum stillzustehen. Einige Schläge lang hörte ich einfach nur meinem Herz zu, das in regelmäßigen Abständen immer wieder gegen die Innenseite meines Brustkorbs schlug.

Mein Blick wanderte zurück zu Mae und ich sah die Betroffenheit in ihrem Blick. Denn wir beide wissen etwas, das ich nicht länger vor ihm verheimlichen will.

„Nein", sagte ich leise. „Nein Nick."

Er sah mich fragend an und seine Augen sahen trotz allem so verdammt unschuldig aus, dass ich es fast nicht übers Herz gebracht hätte, fortzufahren.

„Du hast dich geirrt, Tristan hatte recht."

Nick verstand sofort. Er riss die Augen auf. „Du bist ... ?"

Ich nickte langsam. „Ich habe auch nicht lange gebraucht. Als ich damals bei dir zuhause war, habe auch ich mich verliebt. Aber nicht in dich, Nick. Sondern in Mae."

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt