Der Tragödie erster Teil

2K 96 14
                                    

Friedrich Schiller ist ein Arschloch.

Versteht mich nicht falsch, vermutlich war der Mann eine wirklich nette Person und in Anbetracht dessen, dass auch zweihundert Jahre nach seiner Lebzeit seine Werke noch weltbekannt sind, spricht eindeutig für einer Menge Talent, aber wenn man eine zehnseitige Charakteranalyse über einen Mann namens Wilhelm schreiben muss, ist der Autor des Werkes eben unweigerlich ein Arschloch.

Ich klappte mein Notebook wieder zu, nachdem ich immerhin ganze fünf Sätze geschrieben hatte. Wäre Prokrastination eine Disziplin bei den Olympischen Spielen, würde schon bald die Deutsche Hymne für mich gespielt werden.

Ich hatte sowieso nicht damit gerechnet, dass ich in meiner Freistunde ernst zu nehmende Fortschritte bei meinem Aufsatz erzielen würde, denn auch wenn ich grundsätzlich ein großer Fan von Freistunden bin, denn wie der Name schon sagt, hat man in diesen Stunden frei, bemerkt man, wenn man das Konzept mal etwas genauer unter die Lupe nimmt, doch die eine oder andere Schwachstelle.

Denn obwohl einem sämtliche Lehrer, Pädagogen und Menschen auf YouTube, die dir auf ihren Thumbnails versprechen, in nur zehn Minuten dein Leben zu verändern, einem raten, jegliche Freistunden zum Lernen zu nutzen, stellt sich nun mal einfach das Problem, dass es quasi unmöglich ist, sich in einem überfüllten Oberstufenraum irgendwelchen Arbeitsblättern zu widmen, während im Hintergrund deine Mitschüler so einen Lärm veranstalten, dass es kaum zu glauben ist, dass man sich tatsächlich in einer Schule und nicht bei einer Satansbeschwörung befindet. Wobei ich mir eigentlich auch gar nicht wirklich sicher bin, ob es bei so etwas sehr laut oder im Gegenteil extrem schweigsam zugeht, da ich gestehen muss, dass ich tatsächlich noch nie an einer teilgenommen habe.

„Hey, Tam", begrüßte mich eine Stimme von rechts und riss mich dadurch aus meinen Gedanken über die Verbindungen zwischen meinen Mitschülern und dem Antichristen. Tristan Steiner war unbemerkt an mich herangetreten und lehnte sich nun mit dem Rücken gegen meinen Tisch, während er mich lässig angrinste.

Wenn man eins über Tristan wissen sollte, war es, dass er in meinen Augen ein noch viel größeres Arschloch war als Schiller und das will schon was heißen, wenn man bedenkt, dass er noch nie dafür verantwortlich war, dass ich mich durch das Schreiben einer zehnseitigen Analyse quälen musste.

„Was gibt's?", fragte ich und versuchte dabei, meine Stimme betont freundlich klingen zu lassen und nicht so, als würde ich ihm am liebsten vor die Füße kotzen.

Genau genommen hatte Tristan mir nie etwas getan, das meine Abneigung rechtfertigen würde, doch ich hatte grundsätzlich ein Problem mit Typen wie ihm: Sexistischen Arschlöchern, die sich für viel cooler halten, als sie eigentlich sind.
Tristan war einer dieser Menschen, die „schwul" und „behindert" als Beleidigungen benutzen und sich selbst vermutlich als „Bad Boy" bezeichnen würden, wobei ich diesen Begriff schon immer als mehr als peinlich angesehen habe.

Und während ich gerade noch in aller Ruhe meine Hausaufgaben vor mir hergeschoben hatte, stand nun also Tristan vor mir und versüßte mir den Tag. Welches Glück ich doch hatte.

Er grinste noch ein Stück breiter und strich sich mit einer Hand die Haare aus der Stirn. Vermutlich sollte ich der Fairness halber erwähnen, dass Tristan wohl allgemein als gutaussehend bezeichnet werden würde. Seine markanten Gesichtszüge waren nicht minder ausgeprägt als seine Oberkörpermuskulatur und seine grünblauen Augen wurden von einem Meer aus dunkelblonden Haaren eingerahmt.

Das Problem an den meisten gutaussehenden Typen ist nur leider, dass sie auch wissen, wie sie aussehen. Und das tat Tristan auf jeden Fall. Ich war mir natürlich nicht sicher, aber ich würde Geld darauf verwetten, dass er jeden Tag mindestens eine Stunde vor seinem Badezimmerspiegel verbrachte und sich selbst bewunderte.

„Du hast nicht zufällig die Physikhausaufgaben, oder?", sein Grinsen hatte mittlerweile das Ausmaß jenes der gestreiften Katze aus Alice im Wunderland angenommen. Ich focht einen inneren Kampf aus. Wollte ich ihm die Lösungen geben? Eindeutig nicht. Sollte ich sie ihm geben, um nicht ins Schussfeuer zu gelangen? Vielleicht.

Glücklicherweise wurde mir die Entscheidung abgenommen, als eine Gruppe von Menschen durch die Tür trat.

„Ey, Tristan", grölte Moritz bereits von der Tür aus. Tristan drehte sich zu seinem Freund um und nickte ihm zu. Moritz kam zu uns rüber, dich gefolgt von einem weiteren Jungen und zwei Mädchen, die nicht nur identisch aussahen, sondern auch den gleichen albernen watschelnden Gang draufhatten, der aussah, als wäre ihr Hauptziel nicht die Fortbewegung, sondern die Betonung ihres Hinterteils.

Moritz schien mich erst jetzt zu bemerken und seine Stirn legte sich in Falten. „Kennen wir uns?"

Nein Mann, wir haben uns noch nie gesehen, ich meine, abgesehen von den tausenden Malen in der Schule, da wir seit der Fünften in die gleiche Klasse gehen.
Friedrich Schiller stieg auf meiner persönlichen Beliebtheitsskala immer weiter nach oben.

„Sie ist in unserem Physikkurs", klärte Tristan ihn auf und ließ dabei gekonnt alle anderen Kurse, die wir gemeinsam hatten, unter den Tisch fallen.

Moritz nickte. „Ach so."

Tristan wand sich wieder mir zu. „Also? Kriege ich die Hausaufgaben?"

Ich verdrehte die Augen, reichte ihm jedoch meinen Collegeblock. Ich verfluchte mich selbst dafür, dass ich ihm half, hatte aber wirklich keinen Nerv auf eine Diskussion.

„Warte, wir hatten was in Physik auf?", fragte Moritz überrascht und trat neben seinen Freund, um ebenfalls einen Blick auf meine Aufschriften werfen zu können.
In der Zwischenzeit beäugten mich die zwei Mädchen misstrauisch.

„Du hast Physik?", fragte die eine und ihre Stimme klang, als hätte sie gerade gefragt, ob ich am Kennedy-Komplott beteiligt gewesen wäre.

„Ja?", antwortete ich zögerlich. Ich hatte nicht gewusst, dass es illegal ist, dieses Fach zu wählen.

„Aber du bist ein Mädchen", meinte sie und musterte mich kritisch, so als wolle sie überprüfen, dass ich nicht doch irgendwo ein Y-Chromosom versteckt hielt.

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Wir haben mehrere Mädchen im Physikkurs."

„Hm", machte sie und versuchte, diese Information in ihre Weltvorstellung einzuordnen.

„Irgendwie komisch", mischte sich nun auch die andere ein und ich musste mich zurückhalten, um nicht einfach aufzustehen und zu gehen. In welchem Jahrhundert lebten die zwei eigentlich, dass sie solche Geschlechterklischees für normal hielten?

Die erste zuckte nur mit den Schultern, als wäre das Thema für sie dami beendet, und mir fiel auf, dass die beiden sich weniger ähnlich sahen, als ich es wahrgenommen hatte, als sie reinkamen. Der Gedanke war mir mittlerweile schon fast peinlich, denn die zwei Mädchen hatten nicht mal die gleiche Haarfarbe. Ich musste mir eingestehen, dass vermutlich auch ich ein paar kleine Vorurteile hatte, wenn ich alle Mädchen, die graue Jogginghosen, weiße Nike-Schuhe und mittellange offene Haare trugen, augenblicklich in dieselbe Schublade steckte.

Aber seien wir ehrlich, irgendwie tauchte diese Kombination schon häufig bei dem selben Schlag Mädchen auf.

Als sich der Raum immer weiter leerte, warf ich einen Blick auf meine Uhr. In zwei Minuten würde meine nächste Stunde anfangen. Ich ließ mir von Tristan und Moritz meinen Block wiedergeben und stopfte ihn achtlos in meinen Rucksack.

Dann machten ich mich auf den Weg zum Physiklabor, wo die einzige Person mit Jogginghose unser demotivierter Lehrer sein würde.

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt