Der Tragödie sechster Teil

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Ich rannte Tristan hinterher. Er war noch nicht weit gekommen und so kam ich nach nur wenigen Sekunden schlitternd vor ihm zum Stehen.

Mit verkreuzten Armen stellte ich ihn zur Rede. „Was hast du da gerade gesagt?"

Tristan sah mich mit Unschuldsmiene an. „Entschuldigung, habe ich irgendwas falsches gemacht?"

„Ich bin nicht lesbisch."

„Nicht?"

„Uhm nein?", ich sah ihn fassungslos an. Plötzlich machte auch meine Begegnung mit Svenja und Laura Sinn. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Sag mal hackt's? Du hast nicht allen Ernstes überall rumerzählt, ich würde auf Mädchen stehen, nur weil ich nicht mit dir rummachen wollte, oder?"
Plötzlich kam mir ein weiterer Gedanke. Ich schnaubte laut auf. „Oder glaubst du das wirklich? Verträgt dein riesiges Ego es nicht, dass dir nicht sämtliche weibliche Personen auf diesem Planeten zu Füßen liegen?"

„Themis, ist alles okay? Du hast es mir doch am Samstag erzählt", er sieht mich sorgenvoll an. Sein Schauspiel war perfekt, nichts an seiner Miene ließ sich anmerken, dass er log.

Er klopfte mir auf die Schulter und lächelte mich an. „Du musst dir keine Sorgen machen, niemand hat da was gegen. Wir akzeptieren dich alle."

Ich konnte immer noch nicht fassen, was sich hier gerade abspielte und so sah ich ihn nur mit leicht geöffnetem Mund an.

Tristan fuhr sich durch die Haare, nickte mir zu und machte sich dann auf den Weg nach draußen.

„Was zur Hölle", murmelte ich. Ich wäre nicht wirklich überrascht gewesen, hätte er die Wette komplett vor unseren Klassenkammeraden verschwiegen. Selbst wenn er erzählt hätte, ich hätte ihn geküsst, wäre ich nicht aus allen Wolken gefallen. Aber das? Darauf wäre ich niemals gekommen.

Ich machte mich auf den Weg nach draußen und kramte im Gehen einen Müsliriegel aus meinem Rucksack. In Filmen klappt so etwas immer problemlos und der Protagonist zieht einfach irgendwas aus seiner Tasche, während er lässig weiterläuft.
Ich kann natürlich nur für mich sprechen, aber wenn ich versuche, im Gehen etwas aus meiner Tasche zu nehmen, wäre lässig aber sowas von nicht das richtige Wort, um den Vorgang zu beschreiben. Vermutlich erinnere ich viel eher an Kermit den Frosch, der sich als Eiskunstläufer versucht.

„Tammy?"

Ich drehte mich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Neben mir stand ein großgewachsenes Mädchen. Ihr langes dunkelbraunes Haar fiel ihr in lockeren Wellen über die Schulter.

Ich musste lächeln. „Hey, June, lange nicht mehr gesehen."

Das stimmte so eigentlich nicht. Im Gegensatz zu Maxine ging Juni nämlich auf die gleiche Schule wie ich. Obwohl sie den Jahrgang über mir besuchte, waren wir uns in den letzten zwei Wochen mindestens ein Dutzend Mal auf den Gängen begegnet.

Sie umarmte mich und eine Strähne ihres seidigen Haares fiel mir ins Gesicht.

Juni war eigentlich viel zu hübsch für mich. Ich meine damit, sie ist viel zu beliebt, um mit mir befreundet zu sein. Gäbe es eine Rangliste der Popularität der Schüler an unserer Schule, wäre sie vermutlich unter den Top zehn, zumindest unter den Top zwanzig.
Ich wäre vermutlich irgendwo im Mittelfeld.
Wie gesagt, Juni ist eigentlich viel zu cool, um mit mir abzuhängen. Das sind sie beide. Waren sie vermutlich schon immer.

Juni, Maxine und ich habe uns angefreundet, weil wir als Kinder in derselben Straße gewohnt haben. Dad ist mit uns hergezogen, als meine Mutter nach Amerika gegangen ist. Ich weiß noch, wie ich Rotz und Wasser geheult habe, als ich erfuhr, dass wir in eine andere Stadt ziehen würden. Ich hatte furchtbare Angst, ich würde dort keinen Anschluss finden.
Aber dann, es waren erst zwei Tage vergangen seit der Umzugswagen uns mitsamt etlichen Kartons ausgespuckt hatte, klingelte es und zwei kleine Mädchen standen vor unserer Tür und luden mich zum Spielen ein.

Wenn ich mir Fotos von damals angucke, war schon mit fünf klar, dass unsere Freundschaft nicht für die Ewigkeit gemacht zu sein scheint. Obwohl Maxine jünger war als ich, überragte sie mich auf sämtlichen Fotos um mindestens einen halben Kopf.

Die beiden sahen von klein auf identisch aus. Groß, lange dunkle Haare, glänzende dunkle Augen und ein engelsgleiches Lächeln. Ich passte nie wirklich ins Bild.

Einmal stellten unsere Eltern uns nebeneinander, um ein Foto von uns zu machen. Ich erinnere mich noch so genau daran, da genau dieses Bild jahrelang bei Maxine zuhause auf dem Kamin stand.
Maxine und Juni stehen darauf links und rechts von mir und lächeln in die Kamera. Dazwischen stand ich, breit grinsend und dabei eine riesige Zahnlücke entblößend. Der irgendwie etwas zu kurze Pony bog sich auf einer Seite komisch nach oben.

Aber es war nicht nur das Aussehen. Als ich sieben war, fingen Juni und Maxine an, zum Fußballtraining zu gehen. Mein Vater bot mir an, ebenfalls mitzumachen, doch nach der ersten Stunde beschloss ich, dass Sport wohl nicht das richtige für mich ist und trat stattdessen der Garten-AG unserer Schule bei.

Und trotzdem wurden wir unzertrennlich.

Naja, zumindest bis Juni auf die Weiterführende Schule ging und Maxine und ich dann ein Jahr später verschiedene Schulen wählten.

Zuerst trafen wir uns noch jede Woche, doch nach und nach beschränkte sich unser Kontakt dann nur noch auf Textnachrichten und gelegentliche Treffen.


Und nun stand Juni also vor mir und drückte mich an sich. Einfach so.

Ich machte mich vorsichtig von ihr los. „Was ist denn passiert?"

Sie griff mich an den Schultern und schüttelte mich leicht. „Was passiert ist? Du hast dich geoutet und Max und mir gegenüber kein Wort darüber verloren! Ich weiß, wir haben nicht mehr so viel Kontakt wie früher – wir müssen uns wirklich mal wieder treffen – aber wir hätten dir doch helfen können, Tammy!"

Gestern noch wusste Moritz nicht mal, wer ich bin, und kaum ist irgendein Gerücht über mich im Umlauf, weiß es innerhalb eines Tages sogar schon die Stufe über mir. Sag mal, wollt ihr mich eigentlich verarschen?

Ich schüttelte ihre Hände ab. „Ich habe mich nicht geoutet. So ein Typ aus meinem Jahrgang erzählt das nur überall rum, weil ich ihn nicht küssen wollte."

Juni sah mich überrascht an. Ihr Mund formte ein perfektes O.
Ich sah sie entschuldigend an und sie tippte sich ans Kinn, als müsse sie über mein Wort nachdenken.

Schließlich kam wohl sie zu dem Schluss, mir zu glauben. „Tristan war schon immer ein Arschloch."

Die Gerüchteküche hatte wirklich volle Arbeit geleistet.

„Hast du gleich noch Unterricht?", wechselte sie das Thema.

Ich nickte. „Doppelstunde Mathe bei dem Sanders."

Sie verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas Saures gebissen. „Uh, das ist echt übel."
Dann grinste sie. „Lass gemeinsam schwänzen und stattdessen Eis essen gehen oder so."

Ich sah sie herausfordernd an. „Ehm nein? Ich dachte, das Thema Schule schwänzen hätten wir bereits genug diskutiert."

Sie verdrehte die Augen, lächelte aber weiterhin. „Spaßbremse."

Ich streckte ihr die Zunge raus und bereute es noch im selben Augenblick. Neben ihr kam ich mir sowieso schon kindisch genug vor, doch sie grinste nur noch ein Stück breiter.

„Eines Tages überrede ich dich schon noch, Tamtam", sie wuschelte mir durch die Haare und schloss sich dann dem Strom aus nach draußen eilenden Schülern an.

Ich hätte ihr gerne hinterhergerufen, dass wir doch zusammen Mittagessen könnten, aber ich tat es nicht, aus der Angst, mich ihr aufzudrängen. Stattdessen schmiss ich das Papier meines Müsliriegels in einen der Mülleimer, die an den Wänden der Flure hingen und machte mich dann ebenfalls auf den Weg nach draußen.
Allein.

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt