Der Tragödie einundvierzigster Teil

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„In jedem Film, in dem irgendwer ein Glow Up bekommt, gibt es immer einen schwulen besten Freund, der das ganze leitet."

„Ich wünsche dir ebenfalls einen guten Morgen, liebe Juni." Ich hob zum Gruß meine noch dampfende Kaffeetasse an.

„Ich konnte leider keinen finden."

„Ich denke, das geht schon klar. Schließl-" Ich stockte. Schließlich sind ja normalerweise dafür die Mädchen aus den Filmen straight, das gleicht das bestimmt wieder aus hatte ich sagen wollen. Glücklicherweise ist mir mein Fehler frühgenug klargeworden.

Nervös nahm ich einen Schluck Kaffee.
Nope, immer noch genauso ekelhaft wie vor dreißig Sekunden. Wieso pfiffen sich das die ganzen beliebten Kids rein als würde es nach etwas anderem schmecken als nach vergorener Milch??

Juni winkte ab. „Ist auch nicht nötig. Ich bin heute dein schwuler bester Freund."

„Das klingt ähm ... interessant."

Und dann schnellte sie nach vorne, schlang die Arme um mich und drückte mich so feste an sich, dass ich Wahnvorstellungen von dem Geräusch von brechenden Rippen bekam.

„Du weißt gar nicht, was mir das bedeutet", nuschelte sie in meine Schulter und ihre Stimme klang, als stände sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. „Jahrelang hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil du immer irgendwie außen vor warst und nie auf das Zeug gestanden hast, für das Max und ich uns begeistert haben und jetzt ..."

Sie hörte auf, mich an sich zu pressen und legte stattdessen beide Hände um mein Kinn. „Heute wird der beste Tag deines Lebens."

Ich sah, dass ihre Augen wirklich etwas glänzten, und warf einen kurzen unauffälligen Blick auf meine Schulter, um sicherzugehen, dass sie keinen Make-up-Fleck auf meinem Shirt hinterlassen hatte.

Ich bin übrigens nicht herzlos, sie übertreibt bloß.

„Hätten wir Maxine nicht eigentlich auch einladen sollen?", warf ich in den Raum. Ich hätte nicht erklären können, warum ich gestern Abend einzig Juni angeschrieben hatte.
Naja, vielleicht wollte ich es auch einfach nicht erklären können.

„Sie ist sowieso bei Liam", warf Juni ein und ließ endlich von meinem Gesicht ab.

„Liam?"

Sie sah mich mit einem Ausdruck leichten Entsetzens an.
„Liam? Ihr Freund? Oh mein Gott, wir haben echt so viel aufzuholen!", rief sie drei Oktaven höher als nötig. Sie schlug sich in ihrer neuen Rolle als schwuler bester Freund echt ziemlich gut.


„Also", sagte sie. Wir standen Mitten in der Innenstadt und ich sah mich etwas verloren um. „Wohin wollen wir zuerst?"

Ich überlegte. „Wo müssen wir denn überall hin?"

Kurz rechnete ich mit einem Bitch please!-Gesichtsausdruck, doch sie hatte sich scheinbar mittlerweile wieder etwas beruhigt und antwortete mit seriös fröhlicher Miene. „Kommt auf dein Budget an. Kleidung, Schuhe, Nägel und auf jeden Fall ein Besuch beim Frisör."

Das Traf mich unvorbereitet. „Meine Haare?"
Instinktiv griff ich nach einer meiner langen weißblonden Strähnen. „Was ist damit?"

„Hast du ein einziges Umstyling gesehen, bei dem man nicht zuallererst eine neue Frisur verpasst bekommen hat?"

Hatte ich nicht. Vermutlich hätte ich also darauf kommen können.

„Ich meine, niemand würde sich das Umstyling bei GNTM reinziehen, wenn die einfach nur ein neues Outfit anziehen und sich die Nägel in einer ungewohnten Farbe lackieren, hm?"

„Vermutlich nicht", gestand ich ein und ein Lächeln huschte über Junis Lippen. Ihr Lächeln hatte sich nie verändert. Endlich etwas, das mir bekannt vorkam.

„Na dann auf zum Frisör!", entschied sie. „Hast du einen speziellen Salon, zu dem du immer gehst?"

„Äh", machte ich und sie musterte mich kurz. „Okay, blöde Frage, wir gehen zu meinem."


„Juniper!"

Meine herausragenden und schon viel zu lange nicht genutzten Sherlock Holmes Fähigkeiten identifizierten der blonde Mann Anfang zwanzig mit dem Septum-Piercing und dem Kästchen mit Kämmen in der Hand als Junis Frisör.

„Aron!" Die beiden fielen sich in die Arme als wäre er ihr lang verschollener Bruder und nicht ihr Frisör. Ich stand etwas unnütz daneben.

„Wer ist die kleine Maus, die du mir da mitgebracht hast?" Damit hatte ich Juni ganz offiziell beim Lügen erwischt. Von wegen sie hatte keinen Schwulen finden können.
Aron stellte das Kunststoffkästchen zur Seite und griff stattdessen nach meinen Haaren.

„Das ist Tammy. Sie steht am Anfang ihres heutigen Umstylings."

Arons Augen leuchtete. „Oh. Mein. Gott. Ich sehe es schon vor mir! So viele Möglichkeiten!"

Ist es nicht irgendwie fast schon homophob, so viele Klischees zu erfüllen?

Ich wurde zu einem der Stühle gezerrt und Aron zog mit der einen Hand ein schmales Etwas auf Rollen heran, auf und an dem allerlei Utensilien befestigt war. Dann legte er mir einen dieser Umhänge um, die man immer bei Frisören umgelegt bekommt.

„Hast du irgendeine besondere Vorstellung?"

Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um zu antworten, als ich in dem beleuchteten Spiegel vor mir sah, dass Aron sich zu Juni umgedreht hatte und sie fragend ansah.

Diese schüttelte den Kopf. „Ich schätze, das liegt heute ganz an dir zu entscheiden."

Ich räusperte mich, um auf die Anwesenheit meiner gesamten kognitiven Fähigkeiten aufmerksam zu machen und ihnen zu verdeutlichen, dass ich sogar in der Lage bin, zu kommunizieren, doch die zwei schenkten mir keinerlei Aufmerksamkeit.

„Perfekt, ich weiß schon genau, wie ich diesen toten Haaren wieder Leben einhauchen kann!"

Ich und meine Haare fühlen sich offiziell beleidigt.

Aber ich ließ es zu. Ich ließ mich in den Stuhl sinken und vertraute diesem jungen Mann, den ich seit ungefähr neunzig Sekunden kannte, meinen Kopf an.

Gott steh mir bei.

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt