Der Tragödie zweiter Teil

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Wie sich herausstellte hatte ich unrecht. Herr Martins trug keine Jogginghose, sondern eine ausgewaschene Jeans. Mit seinen wie gewöhnlich halb geschlossenen Augen, die ihm einen Ausdruck permanenten Leidens verliehen, schrieb er irgendwelche Formeln an die Tafel.

Mein Blick schweifte ab und ich verbrachte die restliche Stunde größtenteils damit, die Eiche, die draußen vor dem Fenster thronte, zu betrachten. Wäre ich nicht so ausgesprochen schlecht im Zeichnen, hätte ich sie vielleicht sogar skizziert.

Als wir nur noch zehn Minuten Unterricht hatten, überlegt ich gerade, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass genau jetzt ein Probealarm losgeht und mich aus dieser Stunde befreit, die sich länger zog als das Kaugummi unter den Tischen, als mir von hinten jemand gegen den Stuhl trat.

Ich fuhr herum und warf Tristan einen genervten Blick zu. Nachdem er mich das ganze Jahr ignoriert hatte, musste er also wirklich heute damit anfangen, mich auf den Kieker zu nehmen? Ich meine, ich hatte ihm die blöden Physikhausaufgaben doch sogar gegeben!

„Ich hab' vollkommen umsonst abgeschrieben, er hat das Zeug nicht mal kontrolliert", raunte Tristan mir zu. In einem anderen Universum hätte ich vermutlich sowas gesagt wie „Tja, Pech", aber da ich mich eben nun mal nicht in diesem Universum befand, sondern in einem, in dem ich ein Feigling war, der seine Ruhe wollte, zuckte ich nur mit den Schultern und drehte mich wieder nach vorne zur Tafel.

Doch kaum hatte ich mich umgedreht, folgte bereits der nächste Tritt gegen meine Rückenlehne. Langsam verlor ich die Geduld.

„Was ist los?", fuhr ich ihn ein wenig zu harsch an und er grinste. „Mir ist langweilig."

Eine höhere Macht hatte vermutlich beschlossen, mich doch in das Paralleluniversum zu teleportieren, denn anders wäre es eindeutig nicht zu erklären, wie ich auf die Idee gekommen bin, ihm „Mir auch, trotzdem trete ich keinen Menschen vor die Lehne wie irgendein Idiot" an den Kopf zu werfen.

Tristan jedoch grinste nur noch ein Stück breiter. „Soso, dann bin ich also irgendein Idiot?"

Ich ignorierte seine Frage und drehte mich zum zweiten Mal wieder nach vorne um. Diesmal ließ er mich in Ruhe, wobei dies auch dem Fakt verschuldet sein könnte, dass Herr Martins genau in dem Moment den Stift sinken ließ und meinte, wir könnten gehen.
Offensichtlich hatte er genauso wenig Lust, sich durch die restlichen Paar Minuten zu quälen, wie wir.

Als ich gerade durch die Tür des Klassenraums in den freiheitsverheißenden Flur treten wollte, bremste mich ein abrupter Ruck ab und ich wurde zurück in den Raum gezogen. Stolpernd versuchte ich das Gleichgewicht zu behalten und Tristan ließ endlich den Griff meines Rucksackes los.

Langsam aber sicher platzte mir der Kragen.

„Sag mal, hackt's bei dir?", ich funkelte ihn böse an. Am liebsten hätte ich ihm eine gescheuert.

Tristan hob beschwichtigend die Hände. „Sorry, ich wollte dich nur erwischen, bevor du abhaust."

„Was willst du von mir?", zischte ich und betonte dabei jedes einzelne Wort.

„Mich für die Hausaufgaben revanchieren", er grinste mich an und strich sich dabei erneut die Haare aus der Stirn. In Anbetracht dessen, dass ich ihm im Laufe der Jahre bereits ein paar Male irgendwelche Hausaufgaben gegeben und er sich kein einziges Mal dafür auch nur aufrichtig bedankt hatte, war mir klar, dass das eine Lüge war.

„Naja, wie du vorhin schon so treffend festgestellt hast, hat Martins die Aufgaben überhaupt nicht kontrolliert, es gibt also keinerlei Grund dazu. Auf Wiedersehen."

Ich machte mich auf, das Klassenzimmer zu verlassen, doch Tristan folgte mir und trat mir im Flur in den Weg.

„Was machst du heute noch?", fragte er mich in einem Tonfall des Typs „kleine Plauderei" und nicht des Typs „ich folge dir nach dem Unterricht, um dich zu nerven".

„Zeug halt", antwortete ich kurz angebunden. Ich wüsste nicht, was ihn das angehen würde.

„Und was für Zeug?" Gott, der Junge ließ echt nicht locker. Mittlerweile verhielt er sich fast schon wie der männliche Hauptcharakter einer mittelmäßigen Enemies-to-Lover-Geschichte.

„Ich treffe mich noch mit ein paar Leuten, um ein bisschen was zu rauchen und diesen schönen Freitagabend mit ein zwei Kisten Bier ausklingen zu lassen. Je nachdem, wie stark das Zeug ist, das wir diesmal in die Shisha stecken, werde ich den restlichen Abend dann vermutlich entweder mit irgendwem im Bett oder zugedröhnt in einem Straßengraben verbringen."

Er sah mich kurz verwirrt an, bis ihm klar wurde, dass ich das offensichtlich nicht ernst meinte und ein kleines Lächeln über seine Lippen huschte.

„Das klingt nach etwas, bei dem ich mich gerne einklinken würde", er grinste mich an und ich verdrehte die Augen.
„Das wäre natürlich ein Traum, aber leider würde der Stoff nicht für noch einen mehr reichen."

Tristan zog einen Schmollmund. „Wirklich enttäuschend, aber ich schätze, da kann man wohl nichts machen."

„Ja, sehr schade", ich nickte ihm zu und wollte mich dann zum dritten Mal auf den Weg machen.

„Und was machst du am Samstag?", fragte er und ich hielt erneut an und drehte mich wieder zu ihm um.

„Da schlafe ich meinen Rausch aus."

Er grinste noch ein kleines Stück breiter. „Gut zu wissen. Solltest du aus irgendeinem Grund doch noch Zeit für etwas anderes haben: Eine Handvoll Leute treffen sich bei mir, wenn du willst, kannst du kommen."

„Ganz bestimmt nicht", ich drehte mich zum letzten Mal um und ging entschlossen davon.

„Um acht geht es los. Überleg's dir", rief er mir hinterher, doch ich ging einfach weiter und tat so, als hätte ich ihn nicht gehört.

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt