Der Tragödie neunzehnter Teil

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Wir folgten der Straße, bis wir in die Innenstadt kamen, die wegen des sommerlichen Wetters bereits gut gefüllt war.

„Wo wollt ihr hin?", fragte ich, während ich eine hellgraue Taube beobachtete, die auf dem Boden vor uns nach Brotkrumen suchte.

Nickt zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, wir hatten eigentlich nichts Spezielles vor."

„Pah!", Mae sah ihn mit empörter Miene an, dann wand sie sich an mich. „Er versucht sich hier gerade nur davor zu drücken, mit mir Shoppen zu gehen. WIE ER ES VERSPROCHEN HATTE."

Ich unterdrückte ein Schmunzeln. „Du siehst gar nicht aus, als würdest du auf sowas stehen."

Sie sah mich mit gerunzelter Stirn an und dachte einige Sekunden nach, bevor sie antwortete. „Wieso denkst du das?"

Augenblicklich kehrte meine Nervosität, die ich bis gerade absolut cool ignoriert hatte, zurück. Ich schluckte. „Ich weiß nicht."

Mae sah mich noch einen Moment länger an, dann schüttelte sie leicht mit dem Kopf. „Naja was auch immer. Wie steht es denn bei dir? Lust auf eine Shopping-Tour?"

Ich atmete tonlos durch und legte dann Nick mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen eine Hand auf die Schulter. „Sorry Mann, aber da musst du jetzt leider durch."


Wir liefen eine schmale Gasse entlang, die laut Mae eine Abkürzung zu der Hauptstraße war, und kurze Zeit später spuckte sie uns tatsächlich in das rege Treiben aus, das die Straße und die weitläufige Wiese daneben bevölkerte.

Links und rechts wurde der Bürgersteig, beziehungsweise die Rasenfläche, von Gebäuden gesäumt.
Mae deutete fragend auf die kleine Mall, auf die unsere Stadt so stolz war, und ich nickte zustimmend.

Während wir über den Platz schlenderten, ließ ich mich etwas zurückfallen und lief neben Nick her.

„Und? Alles okay bei dir?"

„Yeah. Nur etwas hungrig."

Ich grinste und hielt ihm mein Sandwich unter die Nase.
Er griff tatsächlich danach und verschlang es in vier Bissen.

„Whoa", ich sah ihn überrascht an. „Das kam jetzt unerwartet."

Wir waren mittlerweile auf der untersten Ebene der Mall angekommen.

Er grinste verschmitzt und seine Augen blitzten auf. „Naja, irgendwer musste es ja essen. Ich bezweifle, dass die in den Läden begeistert wären, wenn du dort alles mit Ketchup vollschmierst."

„Da war gar kein Ketchup drauf, ich hasse Ketchup."

Nick sah mich entsetzt an. „Was? Du magst keinen Ketchup?"

Mae, die unsere Konversation offenbar mit angehört hatte, drehte sich mit vor Empörung geweiteten Augen zu mir um. „Du Monster!"

Ich kicherte. „Ich? Ein Monster? Niemals! Ich bin ein ganz normaler Mensch, der ganz normale Menschendinge tut."

Es sollte ein Witz sein, doch Mae runzelte nur die Stirn.

„Haha?", versuchte ich es, doch sie schenkte mir nur ein mildes Lächeln.

Unbehaglich wollte ich mich zu Nick umdrehen, doch er stand nicht mehr neben mir. Auch Mae schien mittlerweile das Fehlen ihres Stiefbruders aufgefallen zu sein. „Wo ist dein Loverboy hin?"

„Ich hab' keine Ahnung", antwortete ich zögerlich. Wir sahen uns um, konnten Nick jedoch nirgends entdecken.

„Ich hoffe, der Bastard ist nicht einfach abgehauen, um nicht mit mir Einkaufen gehen zu müssen."

„Das bezweifle ich."

Mae ließ sich auf eine der Bänke fallen, die auf der kleinen Insel in der Mitte der untersten Ebene der Halle standen. Zögernd setzte ich mich neben sie, wobei ich penibel darauf achtete, dass sich unsere Arme nicht berührten.

„Weißt du, Tamms", brach sie nach einigen Sekunden das Schweigen. „Ich bin echt froh, dass er endlich jemanden gefunden hat."

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich.

„Du weißt schon, nach seinem unglücklichen Crush auf dieses Mädchen aus eurer Schule."

Ich sah sie verwundert an. „Was? Wann war das denn?"

Mae schluckte. „Du wusstest nichts davon."
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

„Kennst du ihren Namen?"

Mae schwieg und sah mich unglücklich an.

„Nick hat mir gesagt, er hätte seit der Mittelstufe auf mich gestanden."

„Ich wusste wirklich nicht, dass du davon nichts wusstest", versuchte Mae sich zu rechtfertigen, obwohl ich eigentlich noch viel mehr von ihr hören wollte.

„Geht sie in unseren Jahrgang?", bohrte ich weiter, als ob es etwas bringen würde. „Layla Rieckmann?"
Sie war die erste, an die ich denken musste, wenn ich das Wort „unglücklich" hörte.

Mae schüttelte den Kopf, wobei ich jedoch unsicher war, ob das als Antwort gemeint war oder einfach nur ein Ausdruck, wie sehr sie ihre Worte bereute.
Ihr fielen ihre Haare ins Gesicht, doch sie machte sich nicht die Mühe, sie sich hinter die Schultern zu streichen.

Mir fiel auf, dass sie anders als das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte, nicht komplett in schwarz gekleidet war. Denn auch wenn sowohl ihre kaputte Jeans als auch ihre Boots dunkel wie die Nacht waren, wurde das ganze von einem hellgrauen Top abgerundet, über dem sie ein rot kariertes Hemd trug, das ihre Augen noch mehr zum Vorschein brachte.

Als mein Blick erst einmal auf ihren Augen ruhte, konnte ich ihn nicht mehr von dem intensiven Grün lösen.
Aber das war natürlich einzig und allein dem Komplementärkontrast zu ihrem Hemd geschuldet, also war es absolut verständlich und damit auch okay, oder nicht?

Das Grün ihrer Augen ließ mich für einen Moment sogar vergessen, was Mae mir gerade eben eröffnet hatte. Denn wenn ich davon ausging, dass sie die Wahrheit sagte (Und warum sollte sie auch lügen?) hieß das doch, dass irgendwas an der ganzen Story, die Nick mir erzählt hatte, faul war, oder er zumindest relevante Details weggelassen hatte.

„Kannst du mir nicht zumindest sagen, was –", setzte ich einen neuen Versuch an, aus Mae weitere Details herauszubekommen, als ich davon unterbrochen wurde, dass Nick auf uns zukam. In der Hand drei Tüten Pommes.

Während er die letzten Schritte auf uns zukam, hob Mae endlich den Blick und sah mich mit traurigem Blick intensiv an. War das eine Bitte, Nick gegenüber nichts von dem zu erzählen, was sie mir unabsichtlicher Weise anvertraut hatte?

„Hier", Nick, der davon nichts mitzubekommen schien, reichte uns jeweils eine der Tüten. „Du hast so viel über Ketchup gesprochen, dass ich meinen Hunger einfach nicht länger unterdrücken konnte."

„Du bist echt so verfressen, Alter", Mae lachte und klang dabei, als ob nichts geschehen wäre. Einzig in ihren Augen konnte ich sehen, dass es sie nicht kaltließ.
Ein Gefühl, das ich nicht zuordnen konnte, überkam mich und breitete sich in meinem Körper aus.

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt