Der Tragödie vierundvierzigster Teil

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Der folgende Montag war eine reine Tortur.

Es fing alles damit an, dass ich herausfand, dass ich vergessen hatte, mir einen Wecker zu stellen. Einzig meinem inneren Zeitgefühl hatte ich zu verdanken, dass ich nicht die ersten zwei Stunden verpasste.
Doch auch meine innere Uhr war nicht gerade die Definition von Perfekt, weshalb ich eine Dreiviertelstunde später aufwachte als geplant.

Nachdem ich durch einen Blick auf meinen Wecker feststellen musste, dass ich eigentlich schon fast aus dem Haus sein sollte, erschrak ich so sehr, dass ich erstmal entschied, dass es ein geeigneter Zeitpunkt dafür war, ein physikalisches Experiment zur Schwerkraft durchzuführen, und fiel aus dem Bett.

Ich betrieb meinen Frühsport aka ging die zehn Schritte zum Bad, um mir die Zähne zu putzen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich dezent zu schminken, da wenn ich eins von den schrecklichen Hauptcharakteren aus irgendwelchen genauso schrecklichen Büchern gelernt hatte, war es, dass beliebte Mädchen sich nun mal dezent schminken.

In Anbetracht dessen, dass ich jedoch absolut keine Ahnung hatte, wie man sich schminkte, und des Weiteren auch nicht die Zeit für irgendwelche Experimente an meinem Gesicht auf Grundlage irgendwelcher YouTube-Videos hatte, entschied ich, diesen Schritt ausnahmsweise zu überspringen.

Juni würde mir vermutlich den Kopf abreißen, da sie mich Samstag in zwei verschiedene Drogerie gezerrt hatte um mich mit „dem Nötigsten" einzudecken, aber in Anbetracht dessen, dass mir die Zeit davonlief und ein Schminkversuch bei meinem Talent eh nicht gut gehen könnte, ließ ich mir diese Kleinigkeit durchgehen.

Zumindest war ich gestern gescheit genug gewesen, mir bereits Gedanken darüber zu machen, was ich am ersten Schultag meines neuen Lebens anziehen würde, und war so wenigstens nicht dazu gezwungen, unter Zeitdruck irgendein Outfit zusammenzuschustern, in dem ich dann vermutlich eher ausgesehen hätte wie eine Dreijährige, die zum ersten Mal selbst ausgesucht hat, was sie anzieht, und nicht wie der coole Teenager, der ich anstrebte zu werden.

Halb laufend, halb stolpernd machte ich mich auf den Weg nach unten und schnappte mir im Vorbeigehen einen Apfel aus der Obstschale auf der Küchentheke, während ich mich auf den Weg in den Flur machte, um in meine neuen weißen Adidas-Sneaker zu schlüpfen und endlich das Haus zu verlassen.

Innerlich klopfte ich mir für die Idee mit dem Apfel auf die Schulter, denn ich hätte schwören können, schon mal in irgendeinem Film gesehen zu haben, dass die Protagonistin beim Rausgehen irgendein Stück Obst aus der Küche mitgehen ließ.
Gut, um ehrlich zu sein muss ich zugeben, dass ich kurz gezweifelt habe, ob der Apfel echt ist oder ich gleich in eine Kunststoffattrappe beißen würde, da ich schwören könnte, weder meinen Vater noch mich oder die Zwillinge je irgendetwas aus dieser Obstschale nehmen gesehen zu habe, doch in Anbetracht dessen, dass ich nach meinem waghalsigen Reinbeißversuch noch im Besitz meines vollständiges Gebisses war, lag mein ungesunder Lifestyle wohl doch bloß an mir und nicht an meiner Familie.

Ich kam zu spät, aber nicht viel und so hoffte ich inständig, dass ich vor Frau Hansen da sein würde, denn ich bin fest davon überzeugt, dass Zuspätkommen in der Schule nur dann wirklich Zuspätkommen ist, wenn man nach dem Lehrer da ist.

Ich klopfte an die Tür des Chemielabors, doch niemand öffnete und aufgrund des undeutlichen Stimmengewirrs, das von der anderen Seite der Tür zu mir nach draußen schwang, schloss ich darauf, dass Fortuna dieses eine Mal wohl doch auf meiner Seite war.
Ich atmete erleichtert aus und öffnete dann die Tür.

Ich hatte recht, Frau Hansen war wirklich noch nicht da, was eigentlich recht ungewöhnlich für sie ist. Ich betrat eilig den Raum und schlagartig verstummte das Meer aus Stimmen.

Okay, ich gebe zu, ich überdramatisiere das Ganze ein kleines bisschen. Eigentlich wurde mir erst nur die Aufmerksamkeit der spärlich besetzten ersten Reihe zuteil und nach und nach drehten sich mehrere der Schüler aus dem Kurs nach mir um und einige begannen zu tuscheln.

Ich sah, dass Layla Rieckmann mich mit hochgezogener Augenbraue musterte, was ich echt unfair fand. Und das lag nicht an der Verbindung, die ich zwischen Mae und dieser Geste geknüpft hatte, sondern daran, dass meiner Meinung nach eine Augenbraue hochzuziehen ziemlich cool ist und homophoben Menschen verboten sein sollte.

Ich ignorierte Layla und machte mich stattdessen auf den Weg zu meinem Platz.
Ich setzte mich und holte das Zeug, das ich gleich brauchen würde, aus meiner Tasche und platzierte es dann sorgfältig vor mir auf dem Tisch, um etwas anderes zu tun zu haben als meinen Blick durch den Raum schweifen zu lassen und zu überlegen, welche von den Gesprächen sich gerade wohl um mich drehten.

Vielleicht bildete ich mir auch viel zu viel ein und niemand interessierte sich für meinen Haarschnitt, aber in Anbetracht der Geschwindigkeit, mit der sich mein Gerücht damals verbreitet hatte, bezweifelte ich, dass meine Mitschüler nicht minder sensationsgeil hierauf reagieren würden.
Innerlich verfluchte ich mich dafür, Aron nicht gezwungen zu haben, mir von seinen Plänen zu erzählen, bevor ich ihn an meine Haare gelassen habe.

„Schick."

Ich hob den Kopf und stellte überrascht fest, dass das Gesicht, in das ich blickte, Malin gehörte. Sie musste sich tatsächlich die Mühe gemacht haben, den ganzen Raum zu durchqueren, nur um meine Frisur in einer einsilbigen, mit emotionsloser Stimme gesprochenen Aussage kommentieren zu können.

„Eh", machte ich. „Danke?"

Ich hatte keine Ahnung, ob sie es sarkastisch gemeint hatte oder nicht.

„Weißt du, ich habe es schon asozial gefunden, dass du-", sie verstummte und drehte sich in Richtung der Ecke neben der Tür um.

Ungefähr drei Sekunden später verkündete der Gong, der aus dem Lautsprecher, der wie in jedem Raum genau dort in die Wand eingelassen ist, dass jemand eine Durchsage machen würde.

Malin wandte sich nun vollends von mir ab und ging zurück zu ihrem Platz. Ich sah ihr mit leicht geöffneten Lippen überrumpelt nach.

„Dass ich was?", flüsterte ich leise. Ich hätte Geld darauf gewettet, dass ich nun niemals erfahren würde, was ich Asoziales getan habe.

Es folgte ein Knacken, bevor die Durchsage begann.

„Liebe Schülerinnen und Schüler!"

Ich erkannte die Stimme meiner Chemielehrerin sofort. Deswegen war sie also noch nicht hier.

„Es freut mich sehr, euch verkünden zu dürfen, dass unser Team am Samstag bei der ersten Runde des Kepler-Turniers grandios abgeschnitten hat und wir deswegen eine Einladung zu einem Wettstreit nächsten Montag in Kiel bekommen haben. Natürlich ist jeder herzlich eingeladen, mitzukommen und unser Team anzufeuern!"

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt