Der Tragödie zweiunddreißigster Teil

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Am nächsten Morgen wurde ich von dem nervig schrillen Gesang eines Vogels geweckt.

Warum „sangen" diese dummen Viecher eigentlich schon zu Uhrzeiten, zu denen jedes normale Lebewesen noch schlief?
Ich würde wetten, dass das nicht mal einen Zweck zur Paarung hatte und Vögel einfach nur die zoologische Verkörperung von Druckern waren und folglich einen grundsätzlichen Hass auf die Menschheit hatten.

Ich wollte aufstehen und zu der Glastür rübergehen, um mein Kissen raus und den dämlich trällernden Vögeln an den Kopf zu werfen (nicht, dass meine nicht vorhandene Sportlichkeit das zugelassen hätte), als ich ein leichtes Gegengewicht auf mir spürte.

Langsam wanderte mein Blick runter zu meiner Taille und mein Herz setzte für einen Schlag aus, als mir endlich auffiel, dass Mae einen Arm um mich gelegt hatte.

Okay, kritisch. Sehr, sehr kritisch.

Mein Blick wanderte weiter nach oben, während ich mir den Nacken verrenkte, um besser sehen zu können. Maes Augen waren geschlossen.
Wie sie trotz der dämonischen Vögel so friedlich weiterschlafen konnte, war mir ein Rätsel.

Ihr Kopf ruhte auf ihrem linken Arm, während ihr Rechter weiterhin um meine Taille geschlungen war. Die Hoffnung, dass ich mich einfach verguckt hatte, verflog.

Jetzt bloß keine Panik kriegen. Einfach ganz normal weiteratmen.

Mein Gehirn schrie mich an, ich solle auf der Stelle aufspringen und fliehen, doch wenn ich jetzt aufstand, würde sie aufwachen und das würde eine sehr unangenehme Situation werden.

Plötzlich spürte ich, wie Mae sich bewegte. Ich zuckte zusammen und schloss hastig meine Augen.

Sie murmelte etwas unverständliches und vergrub dann ihren Kopf in der weichen Stelle an meiner Schulter.

Irgendwas in meinem Gehirn entschied sich, dass diese Situation so überfordernd war, dass ich einfach erstmal gar nichts dachte. Zumindest nichts Brauchbares.

Millimeter für Millimeter drehte ich erneut meinen Kopf, wobei ich penibel darauf achtete, sie ja nicht zu wecken. Sie schlief weiterhin fest und ihr regelmäßiger Atem war deutlich an meinem Nacken zu spüren.

Okay, Tammy, bleib ruhig.

Wieder gab sie ein undeutliches Gemurmel von sich und erneut drehte ich sicherheitshalber meinen Kopf zurück und schloss die Augen.
Zum Glück, denn nur Sekunden danach veränderte sich der Rhythmus ihrer Atemzüge und ich fühlte, wie sich ihr Kopf an meiner Schulter leicht bewegte.

Dann stoppten die Bewegungen von einer Sekunde auf die andere und für einen Moment schien Mae wie eingefroren.

Abrupt riss sie ihren Kopf weg. Sie musste endlich aufgewacht sein und schien nun nicht weniger schockiert über die Nähe unserer Körper als ich es gewesen war.

Ich spürte, wie sie vorsichtig ihren Arm von mir befreite und dann leise aufstand.

Jetzt alleine auf der improvisierten Matratze liegend zählte ich leise bis einhundertachtzig, bevor ich mein Erwachen fakte.

Doch meine – wie ich fest überzeugt bin – oscarreife Schauspielleistung war sinnlos, denn Mae stand mit dem Rücken zu mir an der großen Glastür, die zu dem schmalen Balkon führte.

„Hey", sagte ich und versuchte dabei möglichst schlaftrunken zu klingen, denn jegliche echte Müdigkeit war nach dem morgigen Schock einem ordentlichen Adrenalinschub gewichen.

„Guten Morgen", sie drehte sich zu mir um. „Gut geschlafen?"

Ich nickte. „Die Decke war bequemer als erwartet. Und du?" Ich stockte kurz, entschied dann jedoch, dass es bei dem riesigen Lügengewirr, in das ich mich in den letzten Wochen verstrickt hatte, auf eine winzige Notlüge mehr auch nicht mehr ankam. „Hast du jetzt eigentlich doch noch im Bett geschlafen, oder ...?"

Ich sah das Zögern in ihrer Miene. „Nee, bin schließlich ein Kavalier. Willst du zuerst ins Bad oder kann ich?"

Ich musste ein kleines Schmunzeln unterdrücken. Selbstverständlich wegen des ,Kavaliers' und nicht wegen ihrem Themenwechsel. „Geh ruhig. Ich brauch sowieso noch einen Moment, um wach zu werden."

Beziehungsweise um mich vollends von diesem Morgen zu erholen.

Sie nickte, griff nach ihrem Kulturbeutel, der noch auf der Kommode stand, und verschwand hinter der Zimmertür.


Keine zwanzig Minuten später saßen wir mit Nick, Caro, Paul und dem kleinen Nils am Frühstückstisch.

Wie sich herausstellte, war der Vierjährige doch nicht so ruhig, wie es am Vortag den Anschein gemacht hatte. Aufgeregt wedelte er mit seinem Frischkäsebrot durch die Luft und machte dabei Brummgeräusche.

„Und, wie war deine erste Nacht, Tammy?", erkundigte sich Nick.
Oh, keine Ahnung, wie drückt man sowas wohl am besten aus? Ein echter Jump-Scare?
Ich lächelte freundlich. „Sehr gut, danke."

„Flugzeugabsturz!" Nils ließ das Brot in seiner Hand runter sausen und klatschte es dann mit der beschmierten Seite nach unten auf die Tischplatte.

„Nils, nein!", Caro sah ihren Sohn streng an und nahm ihm das Vollkornbrot weg. „Das hatten wir doch schon tausend Mal: Keine verunglückten Flugzeuge am Frühstückstisch!"

Nils schob die Unterlippe vor. „Ist doch nicht meine Schuld, wenn das abstürzt. Oder bin ich etwa der Pilot?"

Ich grinste. Der kleine schien extrem eloquent zu sein für sein Alter.

Nick beugte sich ein Stück vor. „Dann stehst du bestimmt auf Super Wings, stimmt's?"

Für eine Sekunde war alles still.

„Und erneut", seufzte Caro laut, während Paul von seinem Stuhl aufsprang und in die Küche floh.

Nils drehte ganz langsam seinen Kopf zu Nick und sah ihn dann mit einem todernsten Ausdruck auf seinem niedlichen Kindergesicht an. „Ich hasse Super Wings. Was denkst du denn, warum ich die Flugzeuge immer abstürzen lasse?" Er drehte sich zu seiner Mutter um. „Nicht, dass ich zugeben würde, dass ich das war."

„Oh", Nick sah ihn etwas überrumpelt an. „Das ist eh schade. Ich hatte gedacht, du würdest das vielleicht cool finden oder so."
Ich konnte mir das Lachen nur schwer verkneifen. Der Kleine war viel zu genial.

„Wenn ich drei Wünsche frei hätte, wären zwei davon, dass Super Wings verboten wird. Zwei, um auch wirklich sicherzugehen."

Nick lächelte unsicher, doch Mae verzog keine Miene.

„Same, Bro", sie hielt Nils die Faust hin und er schlug seine winzige Hand gegen ihre. Maes Gesicht war nicht minder ernst als seins. „Ich hab' mal in der Schule ein Referat darüber gehalten, warum die Serie abgesetzt werden sollte."

Nils Gesicht leuchtete begeistert auf. „Echt?"

Mae nickte. „Jep, und mein Lehrer hat mir versprochen, dass er mir irgendwann eine Audienz bei den Staatsoberhäuptern aller Welt verschafft, damit ich dort stellvertretend für die Menschheit mein Anliegen vorbringen kann."

Nils sah sie voller Staunen und Bewunderung an. „Das ist so cool. Ich will unbedingt mit."

„Aber hallo! Wir zwei werden das sowas von rocken."

Es war die reinste Tortur, dabei zugucken zu müssen, wie Mae mit dem Kleinen redete. Sie war so unfassbar süß.

„Aber", Mae sah Nils warnend an. „Wir werden auf gar keinen Fall per Flugzeug zu dem Termin reisen, klar?"

Nils schüttelte vehement den Kopf. „Niemals!"

„Na dann", Mae nickte mit ernster Miene. „Ich hab mir schon kurz Sorgen gemacht."

„Als ob", Nils grinste. „Du bist echt leichtgläubig, Mae."

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt