Der Tragödie zweiundvierzigster Teil

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Aron fasste mit einer Hand meine Haare zusammen und ich spürte, dass er ein Haargummi um sie zog. Ich war gerade dabei, darüber nachzudenken, warum in aller Welt, er mir einen Pferdeschwanz gemacht hatte, als ich ein Ratsch! hinter mir hörte.

Aber kein etwas Gutes verheißendes Ratsch! wie wenn auf einem Kindergeburtstag endlich die Piñata kaputt gegangen ist oder wenn man in schlechten Sitcoms nach fünfzig versuchen es endlich geschafft hatte, den Reisverschluss des Kleides der Braut zu zubekommt.
Ein absolut nichts gut verheißendes Ratsch!

Vorsichtig hob ich Millimeter für Millimeter meine Hand an und führte sie zu der Stelle knapp hinter meinem Hinterkopf.
Meine Finger berührte das Haargummi und ich spürte das nun raue Ende meiner Haare, das viel zu nah an dem Gummiband war.

Ich war nicht ganz sicher, ob mein Herz einfach aufgehört hatte zu schlagen oder ob mein Herzschlag sich einfach so extrem verschnellert hatte, dass ich es einfach nicht mehr spüren konnte, doch ich hätte schwören können, dass ich jeden Moment einen Herzinfarkt erleiden würde, während ich meinen Blick immer noch in Zeitlupe zu Boden richtete, um die unausweichliche Katastrophe – aka ein Berg von weißblonden Haaren auf dem Steinboden – zu sehen.

Aber der Boden war sauber.

War es möglich, dass er doch nicht ... ?

Ich fuhr herum und mein Blick fiel auf Aarons linke Hand, in der er einen Zopf hielt. Meinen Zopf. Der jetzt nicht mehr an meinem Kopf hing, wo er hingehörte!

„Was hast du getan?!", ich sah aus vor Schock geweiteten Augen an. „Warum hast du das gemacht?!"

Aron blickte aus seinen hellgrauen Augen etwas überfordert zurück. „Mir wurde doch die Entscheidung überlassen! Und wie hätte ich etwas Neues schaffen sollen, wenn ich einfach nur zwei Zentimeter abschneide?! Was hast du denn erwartet?!"

Seine Stimme war schrill, doch ich musste eingestehen, dass das irgendwie eine echt gute Frage war – Was hatte ich eigentlich erwartet?

Vermutlich hatte ich nämlich genau die zwei Zentimeter erwartet. Allerhöchstens noch einen Pony.

Ich drehte mich wieder zum Spiegel zurück und zog das Haargummi aus meinen Haaren, die daraufhin nach vorne und in mein Gesicht fielen.

Ich starrte geschockt auf mein Spiegelbild.

„Das ist verdammt kurz!"

Aron fuhr mir mit der flachen Hand durch die verdammt kurzen Haare. „Das wird verdammt fesh!"

Ich starrte immer noch ungläubig in den Spiegel. „Kannst du daraus noch einen Bob machen?"

„Bob?" Arons Gesicht erschien neben meinem im Spiegel. „Ich dachte eher an einen stylischen Kurzhaarschnitt."

Juni, die bisher geschwiegen hatte und der ich zu einhundert Prozent voll und ganz jegliche Schuld an diesem Dilemma gab, entschied, dass es wohl mal an der Zeit war, sich ebenfalls in unser Gespräch einzumischen.

„Ich glaube, Tammys Problem ist, dass sie befürchtet, dass man sie für lesbisch halten könnte. Es gab da gewisse Gerüchte an unserer Schule, weißt du?"

Aron drehte sich zu ihr um und ich konnte im Spiegel sehen, wie verdattert sein Profil aussah. „Aber das ist sie doch auch."

WAS?

Das war nicht gut, das war gar nicht gut.
Bisher hatte ich so etwas wie einen Gaydar immer für eine Erfindung der Hollywoodindustrie gehalten. Ein Hirngespinst, ähnlich wie Einhörner und Poltergeister.

„Nein bin ich nicht!", protestierte ich, in dem schwachen Versuch, meine Pläne davon, ein neues, beliebtes und vor allem straightes Leben zu führen, irgendwie noch zu retten.

Eine Falte bildete sich auf Arons Stirn. „Bi?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein!"

„Aber du bist eindeutig queer!"

„Ich bin nicht queer!" Am liebsten wäre ich aus diesem verdammt bequemen Frisörstuhl aufgesprungen und aus dem Laden gestürmt. Aber mit meinen aktuellen Haaren wäre das vermutlich nicht die genialste Idee gewesen.

Aron zog eine Augenbraue hoch und ich konnte genau sehen, dass er mir nicht glaubte. Sein Blick wanderte zu Juni, dann zurück zu mir. „Selbst wenn du nicht queer bist, würde dir ein Kurzhaarschnitt super stehen. Auch hetero Mädchen können problemlos kurze Haare haben ..."

Die Art, wie er das hetero aussprach, ließ keinen Zweifel daran, dass er wusste, dass ich log. Und natürlich hatte er recht damit, dass jedes Mädchen einen Kurzhaarschnitt tragen konnte ohne queer zu sein, aber wenn man gerade mal kurz sein ganzes Leben umgekrempelt hat, nur weil man seiner Stufe durch eine gefakte Beziehung beweisen wollte, dass man auf Typen steht, dann ist es nun mal nicht so optimal, sich einen Tag nachdem man diese Beziehung beendet hat die Haare abzuschneiden.
Jedenfalls meiner Meinung nach.

Mein Blick ruhte immer noch auf meinem Spiegelbild vor mir. Es hatte keinen Zweck, sich zu streiten, jetzt wo meine Haare sowieso ab waren. Ich konnte Aron schließlich schlecht zwingen, sie mir wieder dranzukleben.

Ich seufzte. „Bitte mach es einfach so feminin wie möglich."

Unsere Augen trafen sich in dem Spiegel und ich wusste genau, dass er verstanden hatte, dass ich mit feminin straight meinte. Dann verwandelte sich seine Miene in eine Art vorwurfsvollen Blick, als wüsste er genau, was ich gerade in meinem Leben abzog, und würde mich absolut dafür verurteilen.

Oder es war Mitleid, was mich vermutlich jedoch noch mehr stören würde.

„Klar", sagte er und legte meinen abgeschnittenen Zopf auf eine der Ablagen. Ich zwang mich, meinen Blick von diesem schmerzhaften Anblick abzuwenden.

Aron machte sich ans Werk und knapp eine Stunde später hatte er mir eine Art Pixie geschnitten. Zu behaupten, ich wäre happy, wäre gelogen, aber es war vermutlich weniger schlimm als ich erwartet hatte.

Ohne diese verfluchten Gerüchte, die mich in all das, was in den letzten Wochen passiert war, erst reingebracht hatten, hätte ich vermutlich wirklich noch als straight durchgehen können.

Dennoch war meine Vorfreude auf das Umstyling erstmal weg. Getötet von einer dämlichen Frisörschere.

Mein Vorhaben, cool zu werden, fing ja echt klasse an.

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt