Der Tragödie siebenunddreißigster Teil

652 56 1
                                    

„Gib mir dein Handy."

Ich starrte sie ungläubig an. „Ich habe noch meine Schuhe an."

Sie zuckte mit den Schultern. „Stell dich nicht so an. Du hast versprochen, ich kann dir einen Account erstellen, sobald wir wieder zurück sind. Und wir sind zurück."

Ich schüttelte seufzend den Kopf. „Du bist echt besessen."

Sie grinste. „Ja, besessen von dem Vorhaben, dich zu einem normalen Teenager zu machen, Tamms."

Ich verdrehte die Augen und zog demonstrativ langsam meine Schuhe aus. In der Sekunde, in der ich sie vor mir auf der Matte abgestellt hatte, griff sie nach meinem Arm und zog mich ins Wohnzimmer. Dort angekommen schubste sie mich auf Sofa und ließ sich dann neben mich fallen.
Fordernd streckte sie ihre Hand aus.

Ihr Enthusiasmus ließ keine Zweifel daran, dass Widerstand zwecklos ist und so reichte ich ihr mein Smartphone. Natürlich in derselben demonstrativen Geschwindigkeit wie zuvor.

Sie riss es mir förmlich aus der Hand und, um ehrlich zu sein, verblüffte es mich unfassbar, wie schnell sie von einer ernsthaften „Hör-auf-etwas-nachzuhängen"-Art von gestern Abend zu ihrer heutigen Ausgelassenen hatte switchen können.

Aber war ich denn besser? Hatte nicht auch ich meine Melancholie und Verzweiflung am Morgen abgelegt?

Die Geschehnisse mochten vielleicht so wechselhaft sein wie der der Hormonhaushalt eines zwölfjährigen Teenagers, doch ich wollte unsere lockere Beziehung zueinander auch nicht dadurch verändern, dass ich es ansprach. Es war leichter, eine unbeschwerte Zeit zu haben.
Und was war überhaupt gegen Zwölfjährige auszusetzen?

„Code?"

Ich zögerte. Aber ich konnte meine Sei-unbeschwert-Regel ja schlecht schon nach zweieinhalb Sekunden brechen.

„5329."

„Nicht Nicks Geburtstag? Schäm dich."

„73 hoch zwei", sagte ich, nicht in der Erwartung, sie würde die Anspielung verstehen. Aber sie tat es.

„Oh, ich erinnere mich an diese Folge The Big Bang Theorie!"

Ich sah sie überrascht an. „Das ist eh, echt cool."
Ich versuchte zu lächeln, sah dabei jedoch vermutlich eher aus wie Chucky die Mörderpuppe.
Naja, zumindest wenn Chucky weißblondes Haar haben würde.
Ich sah aus wie Chucky die Mörderpuppe, die gerade vom Frisör zurückgekommen war, wo er sich die Haare hat blondieren lassen.
Also falls es einen Frisörsalon gibt, der Puppen die Haare färbt ... Aber lassen wir das.

Es dauerte nicht lange, bis sie die App installiert hatte, und mir fiel auf, dass der Empfang verdammt gut war, wenn man bedachte, dass wir uns irgendwo im nirgendwo befanden. Und dazu auch noch in Deutschland!

„Also", sie lehnte sich zurück. „Ich brauche entweder deine E-Mail oder deine Handynummer. Aber ich glaube, niemand hat hier jemals seine Handynummer eingegeben." Ich diktierte ihr meine Mailaddresse. Sie nickte. „Wie willst du heißen?"

„Äh", ich sah sie hilfesuchend an. „Benutzt man da seinen richtigen Namen, oder ... ?"

Sie grinste. „Du lebst echt hinterm Mond."

Ich spürte eine leichte Hitze in meine Wangen steigen. „Du tust gerade so, als wäre die ganze Welt auf Instagram."

Sie ignorierte meine Aussage. „Dein Name ist eher ungewöhnlich. Der erste Buchstabe deines Nachnamens sollte genügen."

„K", sagte ich.

Sie nickte und tippte etwas ein. Dann reichte sie mir mein Handy zurück. „tamms_k", las ich laut vor. Nicht Themis. Nicht Tammy.

„Such dir ein Passwort aus und gib es da unten ein." Sie drehte sich demonstrativ weg, was ich etwas übertrieben fand, wenn man bedachte, dass sie vorhin noch unverblümt nach dem Code zum Entsperren meines Handys gefragt hatte.

Mae zeigte mir, wie wir und gegenseitig folgen konnten und brüstete sich dann damit, der erste Follower eines nachträglich in die Gesellschaft integrierten Menschen zu sein.

Nachdem ich den Vorgang abgeschlossen hatte, dauerte es keine dreißig Sekunden, bis ich die erste Benachrichtigung erhielt. Mae hatte mich unter einem Beitrag erwähnt. Ich klickte auf den Post und sah mir auf dem Foto noch einmal den Ausblick an, der sich uns vorhin geboten hatte.
Man sah auf dem Bild ein Stück der Picknicksdecke und die Spitze meiner Converse, was mir erneut peinlich bewusst werden ließ, wie dämlich es gewesen war, Sneaker auf einer Wanderung zu tragen.
Ich hoffte inständig, nicht allzu viele Blasen zu bekommen.

Ich steckte mein Handy weg. „Ich schätze, ich bin jetzt ein hipper Mensch."

„Der hippste Mensch der Welt", Mae lächelte. Man sah ihr gestern wirklich absolut nicht an.

Ich fühlte, dass mein Smartphone in meiner Tasche vibrierte.
Ich zog es wieder hervor und sah, dass es auch dieses Mal eine Benachrichtigung von Instagram war. Eine neue Anfrage ... von Maxine?

Überrascht drückte ich auf Annehmen und es dauerte keine zwei Sekunden, bis ich eine weitere Benachrichtigung erhielt. Diesmal eine Chatnachricht.

Tammy?? Ich kann nicht fassen, dass du endlich einen Instagram Account hast!!!

Ich lächelte und schrieb zurück. Ich wurde genötigt ...

Ihre Antwort ließ keine zehn Sekunden auf sich warten. Laut deinem Profil von Mae Schulte. Woher kennst du sie? Juni meinte, es hätte an eurer Schule Gerüchte gegeben, du hättest dich geoutet, aber sie meinte auch, dass du gesagt hättest, dass da nichts dran wäre. Und jetzt hängst du mit Mae Schulte ab?? :o

Mir wurde erneut schmerzlich bewusst, wie sehr wir uns auseinandergelebt hatten. Ich war etwas unschlüssig, ob ich Maxine erzählen sollte, dass ich mit Maes Bruder zusammen war. Sie war einer der wenigen, die ich noch nicht deswegen angelogen hatte, aber um das alles aufrecht zu erhalten, konnte ich nicht auf einmal von der Geschichte abweichen. Außerdem schien sie Mae zu kennen.

Ich bin mit ihrem Bruder zusammen. Woher kennst du sie denn?

Sie ist auf meiner Schule, darum bin ich überhaupt erst auf dein Profil gestoßen!

Mae war seit Jahren, ohne dass ich es gewusst hatte, mit einer meiner besten Freundinnen im gleichen Jahrgang.
Mein Hirn quittierte diesen Zufall mit einem Oha-Moment.

Wobei, in Anbetracht der Anzahl der Schulen in unserer Stadt war das vermutlich eigentlich absolut kein großer Zufall ...

Es erschien eine neue Nachricht von Maxine. Wir müssen und echt mal wieder treffen!

Klar! schrieb ich zurück, in der Annahme, es würde eins dieser leeren Vorsetzte sein, doch Maxine ergriff die Initiative.

Freitag? Ich sag auch Juni Bescheid, wenn du Zeit hast.

Ich lächelte. Zumindest bewirkte das ganze Fake-Freund-Dilemma, dass ich wieder Kontakt zu meinen ehemaligen besten Freundinnen haben würde.
Auch wenn ich das eigentlich gar nicht verdiene, wurde mir schmerzlich bewusst. Schließlich hast du Nick eiskalt ausgenutzt.

Mein Gewissen fühlte sich an wie eine Klinge, die immer wieder wie aus dem Nichts auftauchte und sich in mein Herz bohrte. Ich wusste, die einzige Möglichkeit sie loszuwerden war, einen Weg zu finden, das alles wieder gut zu machen.

Ich würde das alles wieder gutmachen.

Let me get this Straight ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt