Die Wände schienen ihr immer näher zu kommen. Die 28,5 qm schrumpften zusammen, bis Effy glaubte, nicht mehr atmen zu können. Rastlos tigerte das Mädchen die wenigen Meter Laufweg auf und ab, fühlte sich wie ein Raubtier im Käfig. In Jans Bücherregal stand ein ziemlich abgegriffenes Sammelwerk von Rainer Maria Rilke, dessen Gedicht ‚Der Panther' Effy ungewohnt berührt und ins Grübeln gebracht hatte.
„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein."Obwohl der gebrochene Wille der majestätischen Raubkatze auf den ersten Blick als Grausamkeit des Schicksals erscheinen mochte, so glaubte Effy doch zu begreifen, welch eine Gnade dem eingesperrten Panther zuteil geworden war. Er hatte sich mit seiner Situation abgefunden, war innerlich gestorben und somit befreit von allem Fühlen. All sein Leiden von Gleichgültigkeit erstickt.
Ein ernüchternder Gedanken, aber die Fünfzehnjährige sehnte sich nach eben dieser lethargischen Apathie. Stattdessen trieb Rastlosigkeit ihre Schritte über Stunden durch die drei Zimmer. Kreis um Kreis um Kreis.
Der Schatten des Mädchens folgte ihr ebenso rastlos, wanderte über die Wände der Wohnung, während draußen einmal mehr die Sonne unter und die Straßenlaternen an gingen. Beinahe schon glaubte Effy, aus dem Augenwinkel heraus den Panther zu sehen, der auf Samtpfoten an ihrer Seite streifte.
"Ach, möge die Zeit doch verfliegen, wie sie es in den glücklichen Stunden des Lebens zu tun pflegt!", klagte das Mädchen in die Stille der Nacht hinein und fühlte sich bei dieser Wortwahl an eine der pathetischen Jane Austen Romanfiguren erinnert. Dabei erging es ihr nicht besser als eben jenen Frauen, die Tag ein Tag aus nicht Besseres zu tun hatten, als zu Sticken und auf einen Brief ihres Liebsten zu warten. Die Stunden voller Einsamkeit zogen und dehnten sich, bis Effy meinte, der Sommer müsse doch endlich einmal vorüber sein, jedoch kein Ende nehmen zu wollen schien.
Die anderen beiden Bewohner der WG vergnügten sich vermutlich gerade auf einer ausgesprochen ländlich angehauchten After-Show-Party. Vielleicht war es Jan in dieser Umgebung ja sogar gelungen, statt eines Bieres ein Glas Vollmilch zu ergattern.
Und Bela hatte sich bestimmt schon längst eine hübsche Übernachtungsmöglichkeit gesichert. Effy hatte den Schlagzeuger gegenüber seinem Kumpel Nopper etwas von „übelst vögelbedürftg" jammern gehört. Aus irgendeinem Grund zog sich bei diesen Überlegungen der Magen des Mädchens auf unangenehme Art und Weise zusammen.
Schnell schob die Fünfzehnjährige die unerfreulichen Gedanken beiseite und ließ sich mit einem Seufzen rücklings aufs Bett plumpsen. Eine Buchecke stach schmerzhaft in ihre Hüfte. Stöhnend rollte das Mädchen auf Belas Seite und ließ Rilkes gesammelte Werke mit einem Genugtuung verschaffenden Klatschen gegen den Kleiderschrank segeln.
Doch der kurze Anflug von Befriedigung war schnell verflogen und die Langeweile holte das Mädchen wieder ein. Sendeschluss war längst durch, nach einem weiteren Buch stand ihr in dieser Nacht nicht mehr der Sinn und die Geschwister Berger, mit denen sie die Live-Übertragung des Musik-Convoys im Fernsehen angeschaut hatte, waren vor Stunden zum Familienabend abkommandiert worden.
Lustlos rollte das Mädchen sich auf den Rücken und starrte zur Zimmerdecke hinauf, als stünden dort all die Antworten auf die sie quälenden Fragen geschrieben. Noch immer war Effy sich nicht sicher, wie sie mit Bela weiterverfahren sollte.
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𝐌𝐲𝐬𝐭𝐞𝐫𝐲𝐥𝐚𝐧𝐝 (Die Ärzte FF)
Fanfiction1984 West-Berlin ist eine Insel im roten Meer, zu allen Seiten umzäunt von einer meterhohen Mauer. Einer Grenze, die weit tiefer reicht als ihr bloßes Fundament. Sie umfasst eine andere Welt, deren pulsierendes Leben die Sehnsüchte junger Menschen a...