Teil 9 - Die Welt hinter dem Spiegel

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Wie erwartet war das Mädchen am nächsten Morgen als Erste wach. Neben ihr schnarchte der Schlagzeuger noch in ruhigem Schlummer und für ein paar Minuten betrachtete Effy sein friedliches Profil, welches von der Seite betrachtet eine überraschend lange Nase aufwies. Schön war er dennoch mit seinen hohen Wangenknochen, dem ausgeprägten Kiefer und den schmalen, hellen Lippen. Die Proportionen wirkten einfach stimmig oder vielleicht erschien ihr Bela auch bloß deswegen so attraktiv, weil sie noch nie einen Mann aus solcher Nähe betrachtet hatte.

Ein paar Minuten verweilte das Mädchen noch in der Wärme unter der Bettdecke, doch die Neugierde auf ihr neues Zuhause, sowie ein dringendes Bedürfnis trieben sie nach einigen Minuten ins Bad. Ein leiser Kopfschmerz pochte hinter ihrer Stirn, vermochten der Vorfreude jedoch keinen Dämpfer zu verpassen.

Gewaschen und fertig geschminkt inspizierte Effy die nun ruhig daliegende Wohnung noch einmal bei Tageslicht, in dem sie allerdings nur noch dreckiger wirkte. Im Licht der Morgensonne kam der Schmutz an den Scheiben besonders gut zur Geltung, wie auch alles andere, was die Dunkelheit bislang gnädig verborgen gehalten hatte

Mit gerümpfter Nase öffnete das Mädchen das Fenster, damit der Zigarettenrauch der letzten Nacht abziehen konnte und malte von außen einen Hasen in den Schmutz.

Der Blick in den Kühlschrank war ernüchternd, sie hatte bei ihrem Einkaufsbummel gestern Abend keine Milch gekauft und Dosenbier war kein adäquater Ersatz zum Frühstück. Auch der Rest der Vorräte war dürftig und genügte ihren Ansprüchen nicht, obwohl sie am Vorabend nur ein paar Scheiben Toast mit Käse gegessen hatte.

Seufzend schlüpfte Effy in ihre Chucks und begab sich auf die Suche nach einem Supermarkt. Das Treppenhaus hingegen machte bei Licht einen weit freundlicheren Eindruck und auch die Wohngegend stellte sich als unerwartet normal heraus. Etwas planlos blickte die Fünfzehnjährige sich um, bemüht, gar nicht erst ein Gefühl der Verlorenheit in dieser riesigen Stadt aufkommen zu lassen. Diese Siedlung war auch kaum anders als jene, die es in ihrer Heimatstadt gab, nur dass die Häuser weit höher und mit mehr Parteien besetzt waren – und dass es in Westberlin hunderte dieser Siedlungen geben musste.

„Was glotzt'n so?", erklang plötzlich hinter Effy eine knurrige Stimme und erschrocken hüpfte das Mädchen aus dem Weg. Es war eine alte Dame mit einem Weidenkorb am Arm, welche sie nun einer skeptischen Musterung unterzog, die Aussprache durch den Zigarillo zwischen den trockenen Lippen vernuschelt.

„Ich suche den Supermarkt", erklärte die Fünfzehnjährige, bemüht sich weder den Schrecken noch ihre leichte Verunsicherung anmerken zu lassen.

„Welchen?", hakte die Alte nach, ohne eine Miene zu verziehen.

„Den nächstgelegensten?", präzisierte das Mädchen.

Die Dame wies mit ihrem knotigen Zeigefinger die Straße hinunter: „Da."

Und ohne ein weiteres Wort schob sie sich an der Ausreißerin vorbei und dackelte weiter.


~ ~ ~


Das „da" nicht so einfach zu finden sein würde, hatte Effy sich bereits gedacht, doch dass es beinahe eine Stunde dauern würde, zwei Flaschen Milch zu kaufen, damit hatte sie nicht gerechnet. Zu ihrer Überraschung begegnete die alte Dame ihr im Treppenhaus erneut, wo diese sich abmühte, ihren schweren Einkaufskorb die Treppe hochzuschleppen.

„Darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten?", erkundigte sich das Mädchen höflich und erschreckte die Alte damit ungemein. Für einen kurzen Moment fragte Effy sich, ob die schrullige Dame sie bloß nicht gehört und gesehen hatte oder aber, ob sie es nicht gewohnt war, angesprochen zu werden.

𝐌𝐲𝐬𝐭𝐞𝐫𝐲𝐥𝐚𝐧𝐝 (Die Ärzte FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt