Teil 47 - Daddy's girl

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"On the street where you live
Girls talk about their social lives
They're made of lipstick, plastic and paint
A touch of sable in their eyes

All your life all you asked
When is your Daddy gonna talk to you
But we're living in another world
Tryin' to get your message through

No one heard a single word you said
They should have seen it in your eyes
What was going around your head

Oh, she's a little runaway
Daddy's girl learned fast
All those things he couldn't say"


Hastig schaltete Herr Weber das Autoradio aus, die Finger fahrig über die kühlen Metallknöpfe gleitend.

Es war unerträglich. Auch ohne mehr als ein paar Worte Englisch zu sprechen, war doch nur zu offensichtlich wovon dieses Lied handelte. Und es machte ihn krank, nicht zu wissen, was mit seiner Kleinen war. Ob sie überhaupt noch lebte.

Der Verkehr verschwamm vor den Augen des Mannes zu einer trägen grauen Masse als Herr Weber wie jeden Abend durch die Straßen fuhr, bedächtig langsam, um das nach Hause kommen so lange wie möglich aufzuschieben. Vielleicht, ja ganz bestimmt sogar, hatte es Zeiten gegeben, da er sich geeilt hatte und mit Vorfreude aufgebrochen war, doch das schien inzwischen alles so weit weg, als wären es Jahre und nicht bloß vier Monate gewesen.

Nachdem der Mann mit dem Auto auf den Parkplatz vor dem kleinen Einfamilienhaus eingebogen war und den Motor ausgeschaltet hatte, blieb er sitzen. Sein Blick ruhte auf den herrlich blühenden Geranien, doch Herr Weber sah sie nicht, war viel zu tief in seinen Sorgen versunken.

Elizabeth war nun schon seit vier Monaten verschwunden und hatte sich nicht ein einziges Mal gemeldet. Kein Lebenszeichen nichts... Verdammt! Wenn ihr nun doch etwas zugestoßen war?

Am Tage ließen sich die Gedanken daran zumeist gut verdrängen, solange nur genügend Arbeit anstand, doch beinahe jede Nacht, wenn er im Bett neben seiner Frau lag und nicht schlafen konnte, quälten ihn diese Vorstellungen. Es gab so viele schreckliche Möglichkeiten und jedes Mal vielen ihm weitere ein, dabei hätte Herr Weber sich niemals selbst als besonders kreativen Menschen bezeichnet.

„Ach meine Kleine, ein Anruf... Ein Anruf würde ausreichen, mich nachts wieder tiefer schlafen zu lassen!"

Das Vertrauen in die Polizei hatte er längst verloren. Die hatten nicht einmal ernsthafte Bemühungen angestellt seine Tochter zu finden, nachdem er die ganze Geschichte ihres Verschwindens erzählt hatte. Als die beiden Beamten gehört hatten, dass es einen Streit gegeben und Elizabeth einen rätselhaften Abschiedsbrief hinterlassen hatte, reichte ein kurzer Blickwechsel zwischen den Polizisten, um sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen.

„Viele Kinder laufen heutzutage von Zuhause fort. Sie werden sehen, in zwei Wochen ist ihre Tochter wieder hier, dann können Sie ihr welche auf die Finger geben und die Sache hat sich", klangen die Worte des freundlich dreinblickenden Polizisten Herrn Weber noch in den Ohren nach, wie auch die hilflose Wut, welche inzwischen in Verzweiflung umgeschlagen war.

Aber zwei Wochen waren verstrichen, ohne ein Lebenszeichen von Elizabeth. Drei Wochen, vier, fünf... Alle Spuren hatten ins Nichts geführt. Hatte die Polizei zumindest behauptet. So wie er seine Tochter kannte, hatte diese sich ohnehin nicht mit halben Sachen zufriedengegeben und die Region direkt weit hinter sich gelassen. Die Vermutung hatte nahegelegen, dass Elizabeth sogar ins Ausland gereist war, vielleicht sogar nach England in die Heimat ihrer Mutter.

Aus Verzweiflung heraus hatte der Vater einige Wochen nach dem Verschwinden seiner Tochter sogar seine Schwiegereltern ausfindig gemacht und informiert. Es war ein sehr unangenehmes Gespräch gewesen, nach all den Jahren des Schweigens, aber solange es auch nur einen kleinen Hoffnungsschimmer gab, von Elizabeth zu erfahren, würde er die Chance ergreifen.

Eine Vermisstenanzeige hatte es dennoch nicht gegeben, dafür hatte Bärbel gesorgt. Streit hatte es deswegen gegeben, viel und heftig. Zunächst war lediglich ein Abwarten von wenigen Tagen bis zur Herausgabe vereinbart worden, denn natürlich wollte niemand offen zugeben, dass das eigene Kind womöglich von Zuhause ausgerissen war. Das Opfer von Spott und Tratsch wären sie geworden, wenn Elizabeth wenig später wieder Zuhause aufgetaucht wäre.

Aber das war die Fünfzehnjährige nicht. Bärbel jedoch hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine andere Version der Geschichte in Umlauf gebracht. Mit einer öffentlichen Suchmeldung hätten die Nachbarn mit absoluter Sicherheit herausbekommen, dass die Schülerin nicht nach England auf ein Eliteinternat gewechselt war, wie Frau Weber dies weit und breit verkündet hatte, um das Verschwinden zu erklären. Und wenn nun der Schwindel aufflog, stünde sie als Lügnerin da und ihr Ruf wäre für immer ruiniert. Es blieb also keine andere Wahl als die Suche der Polizei zu überlassen.

Tage, Wochen, Monate waren verstrichen. Das schlechte Gewissen hatte Herrn Weber gequält, zerrissen zwischen der Liebe zu seiner Frau und seiner Tochter.

Und dann heute dieser Anruf.

Elizabeth hatte bereits vor Monaten die Bundesrepublik verlassen und war über die Grenze in die DDR und weiter nach West-Berlin gereist. „Komplikationen im Datenaustausch mit der zuständigen Stelle" hatte der Polizeibeamte am Telefon gedruckst, das Ermittlungsversagen der eigenen Kollegen beschönigend.

West-Berlin also...

Müde blickte der Mann aus dem Fenster, bemerkte erst jetzt, dass er seit fünf Minuten im Wagen vor seinem eigenen Haus saß. Doch irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen, die Tür zu öffnen und zu seiner Familie heimzukehren. Er wollte nicht dorthin zurück, wo das Verschwinden seiner Tochter totgeschwiegen wurde, doch zugleich wie ein düsterer Schleier über allem hing.

Schwer seufzte Herr Weber und ließ die Stirn gegen das Lenkrad sinken, sich noch einen Moment Zeit nehmend, bevor er langsam den Schlüssel abzog und die Autotür öffnete.

Jeder Schritt fühlte sich wie eine Überwindung an. Aber es gab kein Entkommen vor der unausweichlich bevorstehenden Konfrontation mit seiner Frau. Er musste es tun. Er musste Bärbel entgegentreten und durchsetzen, dass wenigstens in West-Berlin die Suche nach seiner Tochter stattfand.

𝐌𝐲𝐬𝐭𝐞𝐫𝐲𝐥𝐚𝐧𝐝 (Die Ärzte FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt