Kapitel 6

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Während Kurumi durch die Klasse ging, um die restlichen Anmeldungen einzusammeln, hielt Suna den besagten Zettel in seinen Händen, starrte das Kästchen, das er letzten Abend so zielsicher angekreuzt hatte, an, als gäbe es ihm eine Antwort auf alle seine Probleme.
Er wusste immer noch nicht, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, Sportkunde zu wählen, aber wenn er an all die anderen zur Verfügung stehenden Fächer dachte, wurde ihm schnell bewusst, dass diese nicht unbedingt besser waren.
 
Vielleicht war eine seiner Entscheidungen ja einmal richtig gewesen.
 
Er zögerte einen Moment, als seine Klassenlehrerin vor ihm stand und um den Zettel bat, doch drückte ihr ihn dann schnell in die Hand, aus Angst, er könnte sich doch noch einmal umentscheiden.
Das passierte ihm häufiger.
 
Kurumi nahm den Zettel, las kurz, was darauf stand und legte ihn dann wortlos zu den anderen Anmeldungen dazu.
 
Somit hatte er sein Schicksal also besiegelt.
 
Es war nicht so, dass er es nur wählte, weil seine „sogenannte“ Mutter Sport hasste – aber beim Gespräch mit seinem Vater hatte er das plötzliche Verlangen gehabt, genau das zu tun, was ihr nicht ins Geschehen passte.
 
Unterbewusst blickte er einmal zu Osamu, der gedankenverloren einen Bleistift über ein Blatt Papier gleiten ließ.
Seinen Kopf hatte er mit den Händen abgestützt, lag beinahe zur Hälfte am Tisch, seine Augen waren halb geschlossen.
 
Er wirkte müde, erschöpft.
Als hätte er wieder nicht viel geschlafen.
 
Suna begann aus Macht der Gewohnheit mit dem Fuß zu wippen, wandte dann den Blick ab.
Im Gegensatz zum vorherigen Tag hatte er noch kein Wort mit Osamu ausgetauscht.
Und es war schon Mittag.
Und irgendwie fühlte er sich einsam ohne ihn.
 
Niemals würde er seinen Stolz verletzen und wieder zu reden beginnen, bestimmt nicht. Er war noch immer stinksauer, doch Osamu war nun mal sein einziger bester Freund, mit dem er auch untertags während der Schulzeit viel Zeit verbrachte.
Ohne ihn war er alleine, wenn er nicht durch Zufall auf irgendjemanden aus dem Team traf.
 
Obwohl das wiederum nicht dasselbe war.
 
Suna hatte schon lange bemerkt, dass er sich in Osamus Nähe wohler als bei anderen fühlte.
Vermutlich lag dies daran, dass er mit ihm auch die meiste Zeit verbrachte, aber dennoch – hätte er den Wing Spiker nie kennengelernt, wäre er vermutlich für immer so verschlossen geblieben, wie er am Anfang des letzten Jahres gewesen war.
Osamu war so anders als er, aber trotzdem hatte es nie Probleme zwischen ihnen gegeben. Wenn er so daran zurückdachte, hatten sie noch nie wirklich gestritten, was wiederum wahrscheinlich daran lag, dass Suna sich seine Gedanken stets für sich behielt und nicht das Bedürfnis empfand, Dinge, die ihn störten oder belasteten, laut auszusprechen.
 
Und eine dieser Dinge war schon länger die Sache mit Miyu gewesen.
Schon viel zu lange.
Vielleicht war diese Unterdrückung dieses Gefühls, das er beim reinen Gedanken an dieses Mädchen empfand, der Grund gewesen, dass seine Wut nun größer geworden war.
 
Miyu war nicht gerade beliebt an der Schule, weshalb er wahrscheinlich auch nicht alleine damit war.
Aber immer, wenn er auch nur einen Gedanken an sie verschwendete, musste er zugleich daran denken, dass Osamu nur Augen für sie hatte und ihn dabei manchmal offensichtlich vergaß.
 
Frustriert drückte er die Spitze seines Bleistifts gegen das Papier, kaute auf seiner Unterlippe herum.
 
Wieso war das Leben so unfair?
 
„Suna“, rief die Lehrerin ihn plötzlich auf.
 
Suna zuckte zusammen, der Stift fiel ihm aus der Hand, landete mit einem lauten Klack auf dem Boden.
Er hatte komplett vergessen, dass er sich noch immer im Klassenzimmer befand.
 
Kurumi sah in ihr Buch, setzte sich dann ihre Lesebrille auf.
 
Er schluckte, versuchte, wieder in die Realität zu finden. „E-Entschuldigung?“
„Beantworten Sie bitte die Frage.“
Überfordert sah er in sein Buch, sah nach links, rechts, zu seinen Nachbarn, erkannte, dass sie alle auf einer ganz anderen Seite waren.
 
„Sie werden die Frage weder auf der falschen Seite, noch generell im Buch finden, wenn ich sie mir gerade ausgedacht habe.“ Sie sah auf, nahm sich ihre Brille ab. Sofort war ihr arrogantes Starren zu sehen, mit dem sie ihre Schüler stets ansah, wenn sie etwas falsch gemacht hatten und sie ihre Stellung richtig schön ausnutzen konnte.
Gerade, dass sie nicht lachte.
Sie liebte es, wenn sie Schüler entdeckte, die mit ihren Gedanken woanders waren – ihr sechster Sinn war es, diese sofort zu erkennen.
 
„Könnten Sie die Frage wiederholen?“, fragte er höflich.
Ihr Kiefer arbeitete, während sie die Kreide auf dem Lehrertisch ablegte. „Ich habe euch allen schon oft genug gesagt, dass meine Stunden nicht zum Träumen da sind. Wenn es anderen Lehrern egal ist, ob ihr aufpasst oder nicht, dann ist das so, aber bei mir seid ihr gefälligst anwesend. Über eure privaten Angelegenheiten könnt ihr zuhause auch noch träumen“, erklärte sie sauer, sah dabei durch die Klasse. „Noriyuki“, sagte sie, ihr Blick schoss dabei in die letzte Reihe, in der der Basketballer gemütlich auf dem Pult schlief.
Er regte sich nicht.
Ein paar Leute lachten.
Und Kurumi wurde immer wütender, während ihr Blick ein paar Reihen weiter nach vorne wanderte. „Miya.“
 
Osamu sah zu ihr auf.
 
Eine Weile blieb es still.
 
„Das gilt auch für Sie.“
Er nickte verstehend. „Verstanden“, sagte er leise, wirkte dabei aber nicht unbedingt überzeugt.
Ihm war es ziemlich sicher genauso egal.
 
 
 
 
Bereits seit einer halben Stunde saßen sie alle bei Tisch – und seit einer halben Stunde herrschte, wie sonst auch, ein unangenehmes Schweigen am Tisch.
Jeder war auf sein Essen konzentriert, und vermutlich wäre jeder Versuch, ein Gespräch anzufangen, falsch gewesen.
 
Osamu wandte den Blick nach rechts, sah, wie sein Bruder sich mit der Hand am Kopf am Tisch abstützte, in seinem Essen herumstocherte, sich ab und zu etwas nahm und schließlich langsam und genusslos aß.
Der jüngere Zwilling wollte seufzen, doch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er seinen Eltern damit nur wieder eine Rechenschaft schuldig war – und ihm war lieber, sie alle schwiegen sich an, wie dass alle schrien und stritten.
 
Er stupste Atsumu mit dem Fuß unter dem Tisch an, damit sich dieser aus seiner Traumwelt löste. Der Setter verstand das Zeichen und sofort setzte er sich wieder gerade, fuhr jedoch mit seiner Prozedur des Herumstechens ins Essen fort.
 
Sein plötzliches Aufsetzen war jedoch aufgefallen, und nun haftete ein strenges Augenpaar auf ihm.
„Was ziehst du so ein Gesicht, Atsumu?“
 
Atsumu sah auf, sah seiner Mutter, die ihm genau gegenübersaß, in die Augen. „Bin nur müde.“
„Dann geh früher schlafen.“
„Ich musste lernen.“
„Wer’s glaubt. Bei deiner Intelligenz bringt dir Lernen auch nichts mehr.“
 
Atsumu seufzte leise, und Osamu merkte, dass diese Aussage gesessen hatte.
Seine Eltern waren leider nicht die gefühlvollsten.
 
Osamu räusperte sich. „Wie lief’s heute im Laden?“, fragte er, um vom Thema abzulenken und interessiert zu wirken.
 
Sein Vater legte seine Zeitung beiseite, nahm sich die Lesebrille ab, betrachtete seinen Sohn durchdringend. „Gut, so wie immer.“
Osamu drehte seine Gabel herum, hinterfragte, ob es eine gute Idee gewesen war, mit genau diesem Thema anzufangen.
„Hattet ihr nicht heute das Bewerbungsgespräch?“
Sein Vater nickte. „Ja. Wir haben den Typen eingestellt, aber nur auf Probe.“
 
Der grauhaarige Zwilling atmete erleichtert aus.
Das war wenigstens schon etwas.
 
Atsumu sah zwischen den Beiden hin und her. „Um wen geht’s?“
„Geht dich nichts an“, meinte sein Vater sofort laut und deutlich.
 
Atsumu schluckte, sah auf seinen Teller, aß seine Nudeln weiter – nun schneller.
Wahrscheinlich wollte er auf sein Zimmer verschwinden.
 
 
Nachdem sie fertig gegessen hatten, ging Atsumu ohne Umwege in sein Zimmer zurück.
Osamu sah ihm hinterher, während er einen Teller abspülte.
 
„Lass das, ich mach das fertig“, sagte seine Mutter, nahm ihm den Teller aus der Hand, was ihm gerade mehr als Recht kam.
Mit schnellen Schritten ging er ebenfalls zum Zimmer seines Bruders, klopfte langsam und öffnete die Tür im selben Moment – Atsumu zuckte vor Schreck hoch.
 
„Du kannst nich‘ klopfen und gleichzeitig die Tür öffnen, wann kapierst du das endlich?!“, rief Atsumu etwas erschrocken.
„Sorry, eure Hoheit“, äffte Osamu ihn nach, schloss dann die Tür hinter sich und setzte sich zu seinem Bruder ans Bett.
 
Atsumu hatte die Füße an den Körper gezogen, starrte nun auf die gegenüberliegende Wand.
 
Eine Weile blieb es still.
 
„Ignorier die, die-“
„Tu ich doch. Jeder einzelne Gedanke an die is‘ verschwendet.“
 
Osamu lachte leise auf, schüttelte ungläubig den Kopf. „Tu nich‘ so. Ich weiß ganz genau, wie sehr dich das schon wieder verletzt hat.“
„Leicht zu sagen für jemanden, der immer das bevorzugte und perfekte Kind war, Samu.“
 
Der Wing Spiker sah zu ihm – in seinen Augen spiegelten sich Sorge und Reue, er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch schloss ihn sofort wieder.
Es stimmte.
Seine Eltern hatten sie beide nicht gerade gut behandelt, aber Osamu ging es zuhause immer noch besser als Atsumu.
Und das nur, weil Atsumu sich seit seinem Achten Lebensjahr stets dazu weigerte, eines Tages das verdammte Familiengeschäft zu übernehmen.
 
„Du musst nichts sagen. Ich weiß es. Und ich will gerade nich‘ mit dir streiten.“
 
Es dauerte, bis Osamu die spezielle Betonung auf dem Wort gerade bemerkte.
Spaßhaft stieß er ihm in die Seite, worauf sich ein kleines, schelmisches Grinsen auf Atsumus Gesicht bildete, während er sich dramatisch mit dem ganzen Körper aufs Bett fielen ließ.
„Auuuuaaaaaa“, sagte er in einer gespielt hohen Stimme.
„Wein nicht.“
„Blablabla.“
 
Osamu presste die Lippen lachend zusammen, sah nach vorne, während sein Zwillingsbruder sich wieder aufrichtete.
„Um wen ging’s vorhin wirklich?“, fragte Atsumu nun neugierig, krabbelte dabei immer näher.
 
Egal, was geschah, seine große Neugierde konnte ihm keiner nehmen.
 
Der jüngere Zwilling zögerte etwas. „Rins Vater hat sich beworben.“
 
Atsumu hob überrascht die Augenbrauen. „Warte, ich dachte, der arbeitet bei so ‘ner Elektronikfirma?“
„Ne, schon länger nich‘ mehr, was ich so mitbekommen hab.“
„Wieso bewirbt man sich freiwillig bei uns?“
„Wir zahlen nich‘ schlecht, falls du das noch nich‘ mitbekommen hast.“
 
Der Blonde erwiderte darauf nichts.
So, wie Osamu ihn kannte, machte in seinem Kopf schon wieder etwas ganz anderes seine Runden.
 
„Du machst dir ja ganz viele Gedanken um Sunarin.“
 
Osamu wandte sich sofort zu ihm. „N-Nein. Also ja, schon. Also… er is‘ mein bester Freund, natürlich mache ich mir Gedanken um ihn.“
Atsumu legte seine Finger auf sein Kinn, um einen nachdenkenden Ausdruck nachzuspielen. „Mhm… okay.“
„Was is‘ dein Problem?“, fragte Osamu genervt.
„Nichts. Mir is‘ nur aufgefallen, dass ihr euch die letzten Tage aus dem Weg gegangen seid.“
Er geht mir aus dem Weg, nur fürs Protokoll.“
„Was is’n passiert?“
 
Osamu zögerte, setzte sich im Schneidersitz in die Mitte des Bettes, spielte mit seinen Fingern herum. „Ich hab ihm nur gesagt, dass ich am Samstag doch nich‘ kann.“
„Und warum?“ Atsumu lehnte sich weiter nach vorne, um in das Gesicht seines Bruders sehen zu können.
Dieser suchte nach Worten. „Weil…“
„Weil?“ Atsumu lehnte sich wieder weiter nach vorne.
„Weil…“
„Weil?“ Und wieder weiter nach vorne.
„Weil ich mich mit Miyu treffen muss“, sagte Osamu schnell, verschränkte dann die Arme vor der Brust.
 
Für kurze Zeit erstarrte sein Bruder.
Ungläubig blinzelte er ein paar Male.
 
„Warte… ich glaube, ich habe mich verhört… hast du gerade gesagt, du-“
„Ja, Problem?!“
„Bleib ruhig…“
 
Osamu seufzte, strich sich verzweifelnd durchs Gesicht. „Ich muss etwas mit ihr klären. Ich weiß nich‘, wie das alles ausgeht, aber… danach werde ich sicher wieder mehr Zeit haben, und dann-“
„Wow, du bist ja ‘n größeres Arschloch als ich.“
„Kannst du eigentlich auch mal deine Klappe halten?!“
 
Atsumu kicherte etwas, und nun stieß er ihm in die Seite. „Spaßbremse. Du nimmst immer alles so ernst.“
Osamu rollte mit den Augen, betrachtete ihn dann vorwurfsvoll. „Du hast doch keine Ahnung davon.“
„Von der Liebe? Ne. Da hast du ausnahmsweise recht.“ Der Setter seufzte. „Ich werde wohl alleine sterben.“
„Du findest schon noch die richtige Person für dich. Jeder Topf hat seinen Deckel.“ Der jüngere Zwilling ließ sich aufs Bett fallen, starrte die Decke über sich an, als gäbe es nichts Interessanteres in dieser großen, weiten Welt.
„Und dein Deckel is‘ ganz offensichtlich nich‘ Miyu“, musste Atsumu erwähnen und riss ihn dabei gänzlich aus seinen Vorstellungen.
Der Grauhaarige schloss die Augen, legte einen Arm unter seinen Kopf. „Ich weiß.“
 
Atsumu drehte sich verwundert zu ihm. „Seit wann?“
Osamu öffnete die Augen wieder, gab ihm jedoch keine Reaktion.
 
Der Setter konzentrierte sich wieder auf seine Finger.
 
Eine Weile blieb es still.
 
„Ich hab das Gefühl, dass mein Kopf selber nicht weiß, was er genau will.“
„Wieso? Was meinst du?“, fragte Atsumu leise – sein Bruder zögerte wieder.
 
Es dauerte länger als beim letzten Mal, bis er eine Antwort bekam, weshalb Atsumu die Hoffnung innerlich schon längst aufgab und bereits das Thema wechseln wollte, als Osamu jedoch plötzlich weitersprach.
 
„Ich meine, dass…“ Er unterbrach sich, seufzte leise – er wusste nicht, was genau mit ihm passierte, aber manchmal hatte er das Gefühl, er hätte in seinem Leben alle Entscheidungen, die er nur hätte treffen können, falsch getroffen.
Egal, wie oft Atsumu und Suna ihm klar machten, wie manipulativ und toxisch Miyu war, er schaffte es trotz allem nicht, sich von ihr zu lösen – aber nicht, weil er sie noch liebte.
Vor allem in den letzten Wochen war ihm aufgefallen, dass er ihre Beziehung in der meisten Zeit durch die rosarote Brille gesehen hatte, die man in der Phase der großen Verliebtheit oft trug – aber gleichzeitig fühlte er sich, als hätte er sich all die Gefühle, all die Dinge, die sie zusammen erlebt hatten, und all die vielen Ich liebe dich-s eingebildet.
So oft hatte er seine Freunde für Miyu versetzt, hatte sie stets an erster Stelle gehabt, obwohl sie ihm all die Dinge, die er für sie getan hatte, nie zurückgegeben hatte.
Und dafür hatte er seinen besten Freund nun verletzt und bangte darum, ob zwischen ihnen wieder alles okay werden würde.
Suna bedeutete ihm mehr, als er zeigte, und auch, wenn der Mittelblocker das nicht wusste, vergaß Osamu in seiner Anwesenheit des Öfteren die vielen Dinge, die in seinem Kopf schwirrten – Seine Eltern, seine Noten, den bescheuerten Laden und so vieles mehr.
 
„Ich meine, dass ich mich mit meinen Gefühlen getäuscht habe.“

Promise me that we'll be fine - OsaSunaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt